Zu Beginn des letzten Jahrzehnts hatte die gut 320.000 Seelen zählende Insel Island voll und ganz den Versprechungen der Banken geglaubt: Wenn ihr bankenfreundliche Gesetze macht und bei der Kontrolle der Banken ein Auge zudrückt, schaffen wir moderne Arbeitsplätze und Wohlstand. Auf Versprechungen dieser Art sind viele Länder hereingefallen. Auch Deutschland verabschiedete bankenfreundliche Gesetze. Doch kaum ein Staat trieb es dabei so weit wie Island.
Im Jahr vor der Finanzkrise hatten die drei größten isländischen Banken eine Bilanzsumme, die neunmal so groß war wie die gesamte Wirtschaftskraft der Insel. Doch das isländische Finanzwunder hatte – wenn überhaupt – ein bröckeliges Fundament, und es war klar, dass die Banken bei der ersten Windbö wie ein Kartenhaus zusammenfallen würden. Als die Immobilienblase platzte und im Herbst 2008 in den USA die ersten Banken pleitegingen, war dies nicht nur eine Windbö, sondern ein handfester Orkan. Binnen weniger Tage waren die isländischen Geldinstitute faktisch ebenso pleite. Was tun?
Während andere Länder vom Bankrott bedrohte Banken mit Steuergeldern retteten, ging Island einen anderen Weg. Man ließ sie einfach pleitegehen und weigerte sich, die Gläubiger mit Steuergeld zu entschädigen. Island gründete stattdessen neue Banken, in die alle isländischen Geschäfte überführt wurden, der Rest der Gläubiger im Ausland musste einen Großteil seiner Forderungen abschreiben. Kostenlos war diese Rettung der anderen Art jedoch nicht. Da die Banken auch im Inlandsgeschäft zu viele Kredite vergeben hatten, musste der Staat doch noch einspringen und sich an den – nun komplett verstaatlichten – Banken mit mehreren Milliarden Euro beteiligen.
Somit stand auch Island vor dem Problem, vor dem fast alle europäischen Staaten stehen: Auch Staaten können nur so viel Geld ausgeben, wie sie einnehmen. Reichen die Einnahmen nicht aus, müssen sich die Staaten Geld leihen. Zum Glück konnte Island auf internationale Hilfe zählen. Neben dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und den vier anderen skandinavischen Ländern stellten auch Polen und die kleinen Färöer-Inseln finanzielle Unterstützung zur Verfügung. Aus Deutschland kam keine Hilfe. Großbritannien und die Niederlande verklagten Island sogar vor den internationalen Gerichten.
Während Länder wie Spanien oder Griechenland auf Geheiß der EU-Kommission eisern sparen müssen, kürzte Island seine Staatsausgaben in der Krise nicht, sondern nahm zusätzliches Geld in die Hand, um die Folgen der Krise abzufedern. Das Ergebnis dieser Politik war erstaunlich: Während in anderen Staaten Europas die Wirtschaft einbrach, kam sie in Island wieder in Schwung. Die Arbeitslosigkeit geht zurück, durch die gute Konjunktur kann Island seine Schulden abbauen. Während im Rest Europas die Banker nach wie vor die Politik mitbestimmen, wurden in Island mehr als 80 Banker rechtskräftig verurteilt. Heute hat Island nur noch vergleichsweise kleine Banken, die dem Staat gehören und ihrer eigentlichen Aufgabe nachgehen.
Auch in Sachen Demokratie ging Island seinen ganz eigenen Weg. Die Isländer setzten Neuwahlen an und wagten sogar ein bislang einmaliges Experiment: Sie ließen nämlich von den Bürgern selbst eine neue Verfassung nach dem Crowdsourcing-Prinzip schreiben. Doch der politische Frühling währte nur kurz.
Die Reformer, die den isländischen Weg aus der Krise prägten, kassierten Ende April bei den isländischen Parlamentswahlen eine krachende Niederlage. Sieger der Wahlen waren ausgerechnet die Parteien, die vor der Krise für die Liberalisierung und Deregulierung des Finanzsektors verantwortlich waren. Auch die neue „Volksverfassung“ liegt nun bereits seit drei Jahren beschlussfertig in den Schubladen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie je verabschiedet wird, ist heute geringer denn je. Die Revolution frisst ihre Kinder.
Zudem gibt es über zehn Jahre nach der großen Krise schon wieder Anzeichen für eine neue Immobilienblase. So anders Island ist, womöglich hat es mit den anderen Ländern doch eins gemein: Es lernt offenbar zu wenig aus den Fehlern der Vergangenheit.