Der Kriminalbeamte Qu will seine Tochter Jing beeindrucken. Mit forensischem Blick analysiert er die Schweinekeulen auf einem kleinen Marktplatz irgendwo im Norden Chinas. „Wann hast du die Tiere geschlachtet?“, fragt er den Metzger skeptisch. Keine Antwort. „Okay, wann sind sie verendet?“, rudert er seine Ansprüche zurück. Wieder keine Antwort. „Dann sag mir zumindest, woran sie gestorben sind!“ Eine lauschende Kundin rümpft die Nase, der Metzger spuckt verärgert auf den Boden, und Jing schämt sich ihres Vaters. Teenager eben.
Es ist das Jahr 1991. Die schüchterne, aber furchtlose Jing wächst in einem kleinen Provinznest auf, das Chinas Reform- und Öffnungspolitik noch nicht ganz erreicht hat. In dem Mikrokosmos kennt jeder jeden, Männer spielen in der Mittagspause Mahjong, und die wenig kompetente, aber umso korruptere Polizei hat das Sagen.
Bis im Schilf am See plötzlich eine Frauenleiche auftaucht, vergewaltigt und verstümmelt: Auf dem Oberschenkel prangt ein Kreuz, tief ins Fleisch geritzt – die Signatur eines Serienmörders. Denn: Es wird nicht die letzte Leiche gewesen sein, die das Dorf in Unruhe versetzt.
Manchmal düster und bedrückend, dazwischen leichtfüßig und gewitzt spannt sich der Thriller immer weiter auf. Stets mittendrin: die junge Jing (Su Xiaotong), deren ermittelnder Vater Qu (Guo Xiao) eifrig Tatorte abknipst und Spuren untersucht – ganz im Gegensatz zu seinen Kollegen, die lieber Pornoheftchen gucken und gelegentlich foltern, um an Geständnisse zu kommen; winkt doch dem eine Beförderung, der den Täter am schnellsten hinter Gitter bringt.
Nachts schleicht sich Jing in die Dunkelkammer ihres Vaters, um heimlich die Tatortfotos zu studieren. Wer könnte der Vergewaltiger sein? Was genau ist da passiert? Und überhaupt – was hat es mit diesem Sex eigentlich auf sich? Weil sie weder in der Schule Antworten findet (der Sexualkundeunterricht beschränkt sich auf ein paar Seiten menschliche Anatomie) noch von den Eltern (die sie lieber verstecken als aufklären würden), muss sich Jing alleine durch Verwirrung und Widersprüche schlagen.
Der chinesische Film „What’s in the Darkness“ ist eine originelle Mischung aus Thriller und Coming of Age. Subtil dokumentiert er den Aufbruch Chinas in eine neue Zeit. Und spricht dabei auch heikle Themen an
„What’s in the Darkness“ ist Wang Yichuns Filmdebüt. Mit dem Coming-of-Age-Thriller thematisiert die 38-jährige Regisseurin nicht nur den Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein, sondern auch vom Kommunismus zum Kapitalismus. Sie zeigt ein bescheidenes China, in dem Monatsbinden zum Trocknen auf Wäscheleinen hängen und in dem es die Armut ist, die die großen Entscheidungen des Lebens trifft: Jings Mutter heiratete ihren Mann nicht aus Liebe, sondern weil er schlau war – ihre Reisschüssel wäre so sicher immer gut gefüllt. „Deine Generation hat es leicht. Schau dir an, wie viele Eier in deinem Essen sind! Vor 30 Jahren hätte man für diese Mahlzeit getötet“, hält Qu seiner Tochter vor, als diese trotzig ihre Stäbchen weglegt.
Die Beziehungen im Film sind – ganz konfuzianische Hierarchie – vertikal geordnet: oben Eltern, unten Kind. Oben Lehrer, unten Schüler. Oben wichtiger Polizist, unten weniger wichtiger Polizist. Doch das System wackelt, und hier und da bricht es auf. Nicht nur Jing ist sich unsicher. Auch ihre Eltern wissen nicht so recht, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen. Einmal zeigen sie ihre Liebe durch Strenge, ein andermal demonstrieren sie Überlegenheit durch harte Worte: „Hätte ich gewusst, dass du so ein dummes Mädchen wirst, hätte ich dich als Baby getötet“, schimpft Qu. Hätte er sich doch mal an die Einkindpolitik gehalten und sich mit ihrem großen Bruder zufriedengegeben. Doch selbst der harsche Ton kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Qu seine Tochter aufopferungsvoll liebt: „Wenn es auf der Welt nur noch eine einzige Mahlzeit gäbe, wem würde ich die geben?“, fragt er seine Tochter. „Na, mir“, weiß die unbeeindruckt.
Am Sonntag feierte „What’s in the Darkness“ in Berlin seine Weltpremiere. Wann der Film in China zu sehen sein wird, ist noch nicht klar – erst vergangene Woche erhielt Wang Yichun die Lizenz für die Ausstrahlung. China ist zwar ein rasant wachsender Filmmarkt, aber kein einfacher. Dass Wang Korruption thematisiert, dürfte die Zensurbehörden nicht begeistert haben: „I was told this was a very sensitive topic. I was told not to talk too much“, antwortet die zierliche Regisseurin nach der Vorstellung auf eine Frage eines Zuschauers. Sie hofft, dass der Film es auch wirklich auf die chinesischen Leinwände schafft – am liebsten noch in diesem Jahr.
„What’s in the Darkness“, Volksrepublik China 2015; Regie: Wang Yichun, mit Su Xiaotong, Lu Qiwei, Jiang Xueming, Guo Xiao, Zhou Kui, Liu Dan, Wu Juejin; 99 Minuten
Läuft noch: Freitag, 19.02. um 11.30 Uhr