Ingo Fock hat das Unwohlsein, die Angst, die Drohungen und die Schmerzen, die Augen, Münder, Zungen, Pickel und Penisse in eine große Kiste gepackt und mit drei Schlössern verriegelt. Die Schlüssel hat er weggeworfen und sich eingeredet, dass nicht er, sondern ein anderer Junge das erlitten hat, was eigentlich ihm widerfahren ist. Ingo Fock war im Alter zwischen 7 und 13 Jahren Objekt, Spielball und Opfer pädophiler Männer. Er ist jetzt 49 Jahre alt und kann darüber reden, seitdem ihm sein Selbstbetrug um die Ohren geflogen ist, so wie bei einem Dampfkochtopf mit zu hohem Druck auf dem Deckel. Die Dämonen, die Macht über ihn hatten, sind noch immer in seinem Kopf. Aber sie üben keine Macht mehr aus. Aus dem Opfer ist so etwas wie ein Überlebender geworden.

Als Treffpunkt hat er ein Restaurant in Göttingen gewählt, wenige Minuten vom Bahnhof entfernt. Die Hose, das Hemd, die Sandalen sind in Grau und Braun gehalten. Einziger Farbtupfer ist das rote Armband seiner Uhr. Bevor er auf der sonnigen Terrasse erzählt, wie er mit dem Missbrauch fertig wird, spricht er über Kontrolle. Er will diesen Artikel vor dem Druck sehen. Sonst gibt es kein Gespräch. Die Kontrolle hat jetzt er und niemand sonst. Über seine Frau, die kurz im Restaurant vorbeischaut, sagt er nur, dass sie ebenfalls eine Betroffene sei, mehr nicht. Er will seine neue Familie schützen. Er raucht viele Zigaretten, während er ruhig und überlegt spricht. Immer wieder hat er Erinnerungslücken. Auch das, sagt Fock, sei ein Schutz.

Aufgewachsen ist er in Berlin-Kreuzberg. Als seine Eltern sich trennten, wurde er zur Großmutter gegeben, die im selben Haus wohnte. So richtig gekümmert hat sich niemand um ihn. Bis auf den Bekannten seiner Mutter, ein verheirateter Mann um die 60, der ein kleines Fotogeschäft hatte. Dorthin ist er oft gegangen. Der hatte Zeit und interessierte sich für ihn. Fock half beim Aufräumen, bekam mal zehn Mark geschenkt oder einen Fotoapparat, und dann passierten die Sachen, die sich falsch anfühlten. Fock zählt sie schnell auf, als wolle er sie rasch hinter sich lassen: Streicheln, Küssen, Oralverkehr, Analverkehr. Ingo Fock wurde herumgereicht. Wie viele Male er missbraucht wurde? „Irgendwann bei 50“ hat er aufgehört zu zählen. Männer gingen mit ihm in die Schwimmhalle oder ins Strandbad, der Bekannte seiner Mutter nahm ihn mit zum Bahnhof Zoo, wo es einen Kinderstrich gab. „Er fand es witzig, uns Kindern beim Sex zuzugucken.“ Fock sagt, dass er abgestumpft war. Er ritzte sich die Unterarme, hielt sich ein Feuerzeug an die Haut oder schlief nicht, um sich zu spüren. Als er 13 Jahre alt war, war er den Männern zu alt.

Er ritzte sich die Unterarme, hielt sich ein Feuerzeug an die Haut

Er hat versucht, mit seiner Mutter über das Erlittene zu reden. Aber er fand nicht die richtigen Worte, und die Mutter wollte es offenbar nicht wissen. Heute ist sie für ihn eine Persona non grata, zu der er keinen Kontakt hat, weil sie ihre Mitschuld nicht anerkennen will.

Nachdem Fock mit der Schule fertig war, entdeckte er seine Liebe zu Pferden. Statt Menschen zu vertrauen, suchte er die Nähe von Tieren. Sie konnten seine Gefühle nicht verletzen oder ihn enttäuschen. Auf einem Reiterhof machte er eine Lehre als Pferdewirt. Und dann begann seine zweite Odyssee. Fock lief vor seiner Vergangenheit weg. Mit 18 Jahren zog er aus Berlin fort, arbeitete als Reitlehrer in Schleswig-Holstein und anderen Bundesländern, einige Zeit lebte er auch in den USA. Die genauen Stationen will oder kann er nicht nennen – wegen der Kontrolle, die er behalten will, und wegen der vielen verdrängten Erlebnisse. Immer wenn ihm Menschen zu nahe kamen, packte er seine Koffer und schleppte auch die imaginäre Kiste mit. „Vertrauen, Freundschaft, Nähe waren mir zu heavy.“ Seit 2001 wohnt er, ohne Unterbrechung, in Göttingen. Heute weiß er, dass niemand vor seiner Vergangenheit weglaufen kann.

Mit Anfang 30 bekam er das schmerzhaft zu spüren. Er hatte sich in eine Frau verliebt, der etwas Ähnliches widerfahren war wie ihm. Sie war von ihrem Vater als Kind missbraucht worden. Da machte es bei ihm „Buff!“. Fock hebt den Arm und lässt ihn auf den Tisch fallen. „Das war, wie aus 3.000 Meter Höhe im freien Fall auf die Bordsteinkante zu knallen.“ Seine mühsam errichtete Schutzmauer fiel durch die schlimmen Erfahrungen eines anderen Menschen zusammen. Aber so hat er gemerkt, dass er nicht alleine ist, und begann eine Therapie. Er hatte Glück und fand schnell einen Platz. Sechs Jahre lang hat er sich dem Missbrauch gestellt und gelernt, dass er eine Wahl hat: „Gibt man den Tätern von damals noch so viel Macht, dass sie in das heutige Leben reinpfuschen, oder sagt man, man kann die Vergangenheit nicht ändern, und die Täter haben keine Kontrolle mehr?“ Wer das verinnerlicht habe, sagt er, habe damit abgeschlossen. Nach einer kurzen Pause schiebt er drei Wörter hinterher. „In gewisser Weise.“ Er ist in Habachtstellung.

„Wenn man einen Welpen jeden Tag prügelt, dann denkt er, es sei normal“

Mit seiner damaligen Freundin gründete er vor über neun Jahren den Verein Gegen-Missbrauch e. V., dessen erster Vorsitzender er ist und der heute 400 Mitglieder hat. Fock berät Betroffene am Telefon, chattet mit ihnen im Forum, begleitet sie zur Polizei, Staatsanwaltschaft und Krankenkasse, wenn es Probleme bei der Übernahme von Therapiekosten gibt. Fock arbeitet „tatortunabhängig“, er hat mit Missbrauch in der katholischen und evangelischen Kirche zu tun, in Heimen und Familien. Sitz des Vereins ist seine Wohnung, in der er auch als selbstständiger Webdesigner arbeitet, seitdem er sich bei einem Reitunfall beide Sprunggelenke gebrochen hat und berufsunfähig ist. Wenn er abends grillt und das Telefon klingelt, müssen die Würste warten. Es hilft ihm, anderen zu helfen, und er hat „viele wunderbare Menschen“ kennengelernt, wie er sagt.

Seit März dieses Jahres sitzt Fock neben drei weiteren Betroffenen im Fachbeirat des „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ der Bundesregierung und fährt regelmäßig zum Jour fixe nach Berlin. Fock hat Kritik an der Stelle als solcher, weil sie nur Empfehlungen aussprechen kann. Daher fordert er eine Verbesserung des Opferentschädigungsgesetzes, Opferschutzgesetze statt Täterschutzgesetze solle es geben, eine Diskussion über eine Verlängerung der Verjährungsfristen und unbürokratische Unterstützung bei Therapien. Bei der Zahl der Betroffenen zitiert er die Polizeiliche Kriminalstatistik von 2011, die 12.444 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern aufführt. „Auf jeden angezeigten Fall kommen 15 bis 17 unangezeigte Fälle“, sagt er. „Sie alle brauchen ein funktionierendes Hilfesystem.“ Die Folgen von sexueller Gewalt, sagt er, halten lebenslang an. Deshalb müsse die Stelle des Missbrauchsbeauftragten, dessen Amtszeit Ende 2013 ausläuft, bestehen bleiben. Die Täter, das weiß er, hören nicht auf.

Fock wird von seiner Vergangenheit immer wieder eingeholt, in Form von „Gedankenflashs“. Er überlegt lange, bevor er ein Beispiel nennt. Der Blick seiner graublauen Augen geht in die Ferne, während er an einer Zigarette zieht. Als Kind war er einmal mit seiner Oma im Urlaub, und sie hat ihn am Abend ins Bett gebracht. „Ich habe ihr einen Zungenkuss gegeben.“ Der Satz hängt wie eine bedrohlich dunkle, schwere Wolke über dem Tisch. Nach quälend langen Sekunden gelingt es Fock mit einem Vergleich, die Wolke zur Seite zu schieben. „Wenn man einen Welpen jeden Tag prügelt, dann denkt er, es sei normal.“