„Ich zog die Schuhe aus und tauchte mit den Füßen in den Fluss ein. Als das kalte Wasser die Unterseite des Beutels streifte, strampelte das Baby (…). Als wir uns der anderen Seite näherten, schloss ich kurz die Augen und hoffte, wir würden nicht von einer Grenzpatrouille entdeckt werden.“
Mitten in der Nacht schwamm Lucia Jang durch den eiskalten Tumen-Fluss über die nordkoreanisch-chinesische Grenze, mit ihrem kranken Sohn Taebum in einer selbst gemachten Plastiktasche. Zweimal war sie zuvor bereits auf ihrer Flucht nach und durch China gefangen genommen worden. Dieser Versuch aber glückte, über Umwege kam sie nach Südkorea.
Die kanadische Autorin und Journalistin Susan McClelland hat Jangs Lebensbericht aufgeschrieben. Und was für ein Leben: Lucia Jang wurde vergewaltigt, verkauft, im Straflager gefoltert, hat ihr erstes Kind verloren und das zweite beinahe ebenfalls. Die deutsche Übersetzung „Ich bat den Himmel um ein Leben“ erscheint Anfang August.
Bis zu der Nacht am Tumen-Fluss vor rund zehn Jahren liegt noch ein langer Weg vor Jang. Sie wächst in den 80er- und 90er-Jahren in einer Siedlung unweit der chinesischen Grenze auf. Von ländlicher Idylle ist dort wenig zu spüren, das Leben ist rau, und die Menschen stehen unter ständiger Kontrolle.
Es ist das Nordkorea von Kim Il-sung, der das Land bis zu seinem Tod im Jahr 1994 fast 50 Jahre lang als Diktator beherrscht hat und bis heute als Staatsoberhaupt de jure gehandelt wird. Kims Staatsführung hat die Bevölkerung Nordkoreas in eine Art Kastensystem der Regimetreue unterteilt, und wer am unteren Ende steht, muss sich auf kleine Rationen und schlechtere Chancen auf dem Heiratsmarkt einstellen. Dies ist auch das Schicksal von Jangs Familie, seit Verwandte Jahre zuvor nach Südkorea geflohen sind. Lange kann Lucia nicht zur Schule gehen.
Hunger ist ein Teil des Alltags
Über Politik wird in ihrem Umfeld jenseits der Großtaten des „Großen Führers“ nur selten gesprochen. Dennoch ist das Hadern mit dem System allgegenwärtig: Hunger, Misswirtschaft und Lebensmittelrationen, die nie reichen, sind immer wieder Teil des Alltags.
Jangs Leben ist lange durchzogen von dem Wunsch, eine gute Schwester, eine gute Gattin, eine gute Genossin zu sein: „Morgens, wenn unsere Klassensprecherin nach vorne ging, um uns bei unserem Treueeid gegenüber unserem Ewigen Präsidenten zu leiten, war ich entschlossen, strammer dazustehen als alle anderen.“ Mit Armut und Demütigungen arrangiert sie sich. Ihre erste große Liebe kann sie nicht heiraten, weil die Familie des Mannes mit der Partei bessergestellt ist als ihre. Der Mann, den sie stattdessen heiratet, trinkt und verprügelt sie. Und als die Armut zu groß wird, verkauft er mit Hilfe von Lucia Jangs Mutter den gemeinsamen Sohn Sungmin.
Dieser Verlust lässt Lucia Jang nie wieder los. Zugleich bricht eine schlimme Hungersnot über das Land herein, sie nimmt „Unkraut als Hauptnahrung zu sich“. Schließlich hört Jang vom florierenden illegalen Grenzhandel in China: Leicht zu beschaffendes Essen wie Pilze oder Fische lassen sich dort gegen Reis und andere Lebensmittel eintauschen. So durchschwimmt Jang zum ersten Mal den Tumen-Fluss. Anfangs geht alles glatt. „In Nordkorea musst du dich dumm stellen, um zu überleben. In China ist genau das Gegenteil der Fall. Du musst so tun, als hättest du Macht“, sagt Jang mal zu einer Frau, die in derselben Situation ist wie sie. Viele nordkoreanische Frauen werden in China selbst zur Ware, ein Schicksal, das auch Lucia Jang ereilt. Doch sie überlebt Menschenhandel, Zwangsheirat und auch die Aufenthalte im Straflager in Nordkorea. Bei ihrer zweiten Gefangenschaft ist sie mit Taebum schwanger.
Immer weiter bricht die Konformität in Jangs Leben auf. Angefangen mit der Suche nach zusätzlichen Nahrungsmitteln in ihrer Kindheit, um die Rationen aufzustocken, über den Großvater, der ihr ein Lied singt über „das koreanische Volk, das unter der japanischen Besatzung verfolgt wurde und Anlass zur Hoffnung hat“, bis zum ersten illegalen Handel in China. Es ist ein subtiler Prozess, der zwischen ihren Beschreibungen manchmal verloren geht und besser hätte ausgearbeitet werden können. Bis zum Ende des Buches ist nicht ganz klar, welche Gefühle Jang heute für ihr Land hegt.
Überhaupt bleiben ihre Schilderungen oft oberflächlich, deskriptiv. Selten reflektiert Jang das Geschehene oder beurteilt es aus ihrer heutigen Perspektive. Auch die Figuren bleiben blass, und bei so manchen einförmigen Satzkonstruktionen scheint bei der Übersetzung etwas verloren gegangen zu sein. Gerade der erste Teil des Buches, die Kindheit, wird so schnell redundant und zäh. Diese stilistische Schwäche spiegelt andererseits auch gesellschaftliche Verhältnisse wieder: In den wiedergegebenen Dialogen spielen Ärger und Kritik ebenfalls kaum eine Rolle. Fremde Erwartungen und Autoritäten werden nicht laut hinterfragt, politische Entscheidungen erst recht nicht, denn Denunzianten lauern an jeder Ecke.
Trotz des deskriptiven Tons berührt die Geschichte von Lucia Jang und regt zum Nachdenken an. Das Buch ist eines der wenigen Zeugnisse vom Leben auf dem nordkoreanischen Land Ende des 20. Jahrhunderts, erzählt aus der Perspektive einer Frau, die trotz Benachteiligungen und Gewalt nicht gebrochen wurde und immer wieder nach Auswegen gesucht hat. Es wird klar, dass hier eine Frau für viele andere spricht.
Heute lebt Lucia Jang mit Taebum und einem weiteren Sohn in Toronto. Sungmin hat sie nie wiedergesehen.
Sabrina Gaisbauer ist Referentin bei der Bundeszentrale für politische Bildung.