Serhij Zhadan ist sicher kein Hellseher. Aber er ist ein verdammt guter Schriftsteller, der die seelischen Befindlichkeiten seiner ukrainischen Landsleute wie kaum ein anderer aufzuspüren und in packende, sprachmächtige Bilder zu fassen versteht. Bilder, die sich an die eigene Seele heften und die man nicht so schnell vergisst.

Wer Zhadan einmal bei einer Lesung in seinem Heimatland gesehen hat, wird verstehen, dass Literatur noch Hoffnung bedeuten kann. Nicht selten sprechen Zuhörer Gedichte mit, brechen in Tränen aus, prusten vor Lachen los oder versinken in träumerische Gedanken, während Zhadans laute Stimme wie ein Pendel durch den Saal schwingt. Wieder einen anderen Serhij Zhadan erlebt man, wenn man die Konzerte der Band „Sobaky v Kosmosi“ („Hunde aus dem Weltall“) besucht. Zu wuchtig treibenden Ska- und Punk-Rhythmen schleudert er wütende, poetische Wortkaskaden ins Publikum, das in Ekstase mittanzt – einen Weg in eine neue Wirklichkeit suchend.

Nun zeichnen sich gute Schriftsteller auch dadurch aus, dass sie ein feines Gespür für bevorstehende Umwälzungen haben. Als Zhadan kürzlich zur Vorstellung der deutschen Fassung seines umwerfend guten neuen Romans „Mesopotamien“ in Berlin war, sagte er: „Eigentlich sind meine Bücher recht unpolitisch. Aber sie haben immer das Pech, von der Politik eingeholt zu werden.“

In einer Episode von „Mesopotamien“ träumt ein junger, von sich überzeugter Icherzähler davon, dass die Dame, bei der er vorübergehend eingezogen ist, sich ihm leidenschaftlich hingibt. Die Geschichte nimmt im Verlauf eine ungeahnte Wendung, der Junge wird melancholisch und am Ende stehen folgende Sätze: „Außerdem sagte sie, dass auf der Straße wieder geschossen werde, dass der Krieg weitergehe und niemand die Absicht habe, sich zu ergeben. All das wird weitergehen, solange wir lieben, erläuterte sie wie auf etwas anspielend. Die Liebe wird für alle reichen, fügte sie hinzu.“

Die düstere Vorahnung einer Zeit des Übergangs

Seit über einem Jahr befindet sich der ukrainische Staat in einem tragischen Krieg mit separatistischen Milizen, die mit der Unterstützung Russlands die ostukrainischen Städte Donezk und Luhansk an sich gebracht und dort Volksrepubliken ausgerufen haben. Man kommt nicht umhin, in die oben stehenden Zeilen eine düstere Vorahnung hineinzulesen – denn fertiggestellt hatte Zhadan sein Buch schon 2013, vor dem Krieg und auch vor den Demonstrationen auf dem Kiewer Maidan.

Natürlich hat Serhij Zhadan den Krieg nicht vorausgesagt. „Es macht überhaupt keinen Sinn, in dem Buch irgendwelche Hinweise auf die aktuelle Situation in meinem Land zu suchen“, sagt er. Dennoch geht es in dem Roman um schleichende Übergänge und Wandlungen, die mitunter ein Gefühl des Unheils hervorrufen. Zhadan beschreibt diese Transitionsmomente in neun Episoden und einem Kapitel mit Gedichten, die in ihrem elegischen Ton und ihrer ausladenden Poesie an die Dichtkunst persischer Autoren erinnern. In ihnen geht es um das Leben und den Tod, um Liebe und Hass, um die Realität und das Abdriften in teilweise mystische Regionen.

Was macht das Leben in Charkiw aus? Die Antworten auf diese Frage entspinnt der Autor kunstvoll vor dem Hintergrund seiner Heimatstadt, die unweit der russischen Grenze im Osten der Ukraine liegt. Es ist eine alte, dynamische Handelsstadt zwischen zwei Flüssen (deswegen die Anspielung auf das historische Zweistromland Mesopotamien), in der verschiedene Kulturen miteinander auskommen und wo sich die bunten, quirligen Geschichten der Einwohner zu einem Feuerwerk des Lebens verbinden.

Zhadan nutzt die Kunst der lyrischen Überhöhung orientalischer Autoren, um dieses Feuerwerk in den schönsten Farben auszumalen und somit das Leben in Charkiw literarisch zum Lodern zu bringen. Es ist eine Freude, Zhadans Figuren auf ihrer wilden Suche nach Liebe und Leben zu begleiten.

Bücher über Jugendliche, Gangster, Loser und Kleinunternehmer

„Mesopotamien“ ist zweifellos Zhadans reifstes, tiefsinnigstes und poetischstes Buch geworden. Das mag daran liegen, dass der Autor, im vergangenen Jahr 40 geworden, sich selbst in einer Zeit des Übergangs befindet. Nur noch am Rande erinnert sein neues Buch an die jugendlich-feurigen Geschichten von „Anarchy in the UKR“, „Hymne der demokratischen Jugend“ oder „Die Erfindung des Jazz im Donbass“, in denen Zhadan Gangster, Loser, Kleinunternehmer und Jugendliche in den stürmischen Wendezeiten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beschreibt. Mit diesen Büchern hatte er sich als Teil einer neuen ukrainischen Literatengeneration in die Herzen vor allem junger Leser geschrieben, die daran glauben wollten, dass das Leben in der Ukraine mehr zu bieten hat als die Korruption, die Ausweglosigkeit und die Dumpfheit des postsowjetischen Lebens.

Trotz ihres scharfen, zum Teil ironischen Realismus lebt die Literatur Zhadans auch von dem Willen zur Romantik. Es braucht Romantik, um angesichts von Zynismus und Starrköpfigkeit an Veränderungen glauben zu können. Deswegen gilt Serhij Zhadan vielen, die an eine demokratische Ukraine glauben wollen, auch als politisches und zivilgesellschaftliches Vorbild. Immer wieder äußert er sich kritisch gegen Putin, gegen die reformunwillige ukrainische Regierung, gegen die Korruption in seinem Land – in Interviews, in Beiträgen für ukrainische und internationale Zeitungen und auf seiner Facebook-Seite. Anfang März 2014, als die Krim durch Russland annektiert wurde und sich auch in Charkiw die Stimmung erhitzte, besetzte Zhadan mit anderen Euromaidan-Aktivisten ein regionales Regierungsgebäude. Prorussische Demonstranten eroberten das Gebäude zurück, wobei Zhadan krankenhausreif geschlagen wurde.

Der Mensch Serhij Zhadan ist zweifelsohne anders als die Helden seiner Bücher, die abseits der Politik ihren Weg zu machen suchen und dabei immer wieder auf einer Straße gen Nirgendwo landen. In „Anarchy in the UKR“ heißt es: „Vergiss die Politik, lies keine Zeitung, geh nicht ins Netz.“ Zhadan ist kein Politiker, aber er weiß um die Verantwortung, die er als Bürger hat. Auf die Frage, welche Lösung er sehe, wenn die Leute wie die Protagonisten seiner Romane nicht an die Politik und an die Medien glauben würden, erwiderte er: „Glaubt aneinander und geht auf die Straße.“

Ingo Petz, 41, schreibt seit 15 Jahren aus und über Osteuropa, mit besonderem Schwerpunkt auf Weißrussland. Bei der Fußball-EM 2012 war er in Charkiw zu Gast bei Serhij Zhadan