Die „Welt“ nennt ihn „Deutschlands populärsten Mathematiker“. Professor Dr. Albrecht Beutelspacher ist ein leidenschaftlicher Übersetzer und öffnet die Welt der Mathematik auch für jene, die bei Kurvendiskussionen immer still geblieben sind. Er schreibt Bücher, hält Vorträge und ist Gründer des Gießener „Mathematikums“ – des ersten mathematischen Mitmachmuseums der Welt

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Hefte raus: Wenn man schon fürs fehlerfreie Abschreiben eine Eins verdient hätte (Alejandro Guijarro)

Hefte raus: Wenn man schon fürs fehlerfreie Abschreiben eine Eins verdient hätte

(Alejandro Guijarro)

fluter.de: Herr Professor, lieben Sie Zahlen?

Albrecht Beutelspacher: Liebe ist das falsche Wort. Liebe ist etwas, das auf einen Respons angelegt ist. In meinem Verhältnis zu Zahlen ist es aber so, dass ich der deutlich aktivere Part bin. Ich zitiere immer Heinemann, den ehemaligen Bundespräsidenten. Als der gefragt wurde, ob er Deutschland liebe, da sagte er: Ich liebe meine Frau.

Aber Sie haben eine Lieblingszahl.

Ja. Die Zahl Acht. Aus zwei Gründen. Acht ist zwei mal zwei mal zwei. Die Zwei ist die Zahl der Symmetrie und der polaren Gegensätze: Heiß und kalt, Tag und Nacht, Mann und Frau. Der andere Grund ist, dass fünf plus drei gleich acht ist. Fünf plus drei ist eine sehr gute Annäherung an den Goldenen Schnitt, das Maß für Schönheit.

Ich war in meinem Abi-Zeugnis in Mathe konfrontiert mit der Zahl Null. Auch eine besondere Zahl.

Die Null ist eine ganz besondere Zahl. Sie wurde erst sehr spät erfunden. In der griechischen Antike gab es keine Null, obwohl es schon super Mathematik gab damals. Erst die Inder haben im Jahr 600 bis 700 nach Christus die Null erfunden. Und damit das schriftliche Rechnen. Eine unglaubliche Demokratisierung des Rechnens.

Trotzdem ist die Null umgangssprachlich negativ konnotiert. Wenn jemand schlecht in Mathe ist, dann ist er eine Mathe-Null. So war das bei mir.

So was kenne ich aus der eigenen Familie. Ich habe einen Bruder, der hatte schon in der Grundschule unglaubliche Schwierigkeiten. Meine Mutter hat damals Nachmittage damit verbracht, ihm beizubringen, was sieben plus drei ergibt. Es ist aber trotzdem was aus ihm geworden.

 

Eigentlich unfair, dass mathematische Fähigkeiten so unterschiedlich verteilt sind. Meine Mutter ist Mathelehrerin. Für mich sind Zahlen oft wie chinesische Schriftzeichen.

Wenn ich Sie beruhigen darf: Das geht auch vielen Menschen so, die gute Noten in Mathe haben. Sie bekommen zwar gute Noten, sagen aber oft: „Verstanden habe ich gar nichts!“

Woher kommt dieses Gefühl?

Am Matheunterricht ändert sich zwar gerade einiges, aber traditionell wird im Schulunterricht viel Wert darauf gelegt, die Verfahren formal zu beherrschen. Meine Generation musste schriftlich multiplizieren, schriftlich dividieren, prozentrechnen. Wir mussten einüben, einüben, einüben. Dabei ist etwas dramatisch zu kurz gekommen: die Vorstellung und das selbständige Denken. Schüler und Studierende müssen das Bewusstsein entwickeln, dass sie etwas rausbekommen, indem sie selbst denken.

Und dann macht Mathe glücklich?

Genau. Wenn wir merken, dass etwas klappt. Und wenn wir nur ein Sudoku lösen.

Die Mathematik hat in Deutschland keinen leichten Stand. Es ist hierzulande akzeptiert, öffentlich mit der eigenen Matheschwäche zu kokettieren.

Die Aussage „In Mathe war ich schlecht“ höre ich immer wieder. Beispielsweise von Politikern, die sagen: „Bei mir hat es nur zum Juristen gereicht, Mathematik habe ich nie verstanden.“

Ärgert Sie das eigentlich? Ein Politiker würde ja kaum öffentlich zugeben, dass er keine Ahnung von Deutsch hat ...

... und wenn er einen Anglisten-Kongress eröffnet, dann hat er ein Shakespeare-Zitat parat. Viele meiner Kollegen ärgert das. Ich empfinde das als Ansporn, noch besser zu vermitteln, was Mathe eigentlich ist.

Mathe abzulehnen – ist das etwas sehr Deutsches?

In vielen Ländern ist das ähnlich, in den angelsächsischen Ländern und in Italien. In Frankreich ist das anders. Da spielt Mathe eine wichtige Rolle in der Schule. Ich war mal bei einer Ausstellungseröffnung mit dem französischen Botschafter. Der hat nicht gesagt „In Mathe war ich immer schlecht“, sondern hat große französische Mathematiker zitiert. Und das ohne Manuskript.

Wie lässt sich diese Kluft schließen zwischen der Mehrheit und der Mathematik?

Wir müssen in der Schule Gelegenheiten schaffen, bei denen sich Schüler mit Mathematik identifizieren können. Mein Beispiel ist immer der Deutschunterricht. Da gibt es auch Phasen, die langweilig sind. Rechtschreibung und solche Sachen. Aber dann lesen wir mit 14, 15 Jahren Hermann Hesse und denken: Genauso geht es mir auch.

Wie kann man sich mit Zahlen identifizieren?

Was wir mit Grundschülern machen, ist, durch die Stadt zu gehen und zu gucken: Wo sehen wir hier Mathe? Es ist unglaublich, wie einem da die Augen aufgehen. Man sieht einen Fensterrahmen: Rechteck. Man sieht ein Stoppschild: ein Achteck. Man sieht runde Dinge, man sieht eckige Dinge, man sieht Parallelen.

In der Schule entwickeln sich im Matheunterricht oft verschiedene Geschwindigkeiten. Mein Mathelehrer hat mir in der Oberstufe erlaubt, während der Stunde Zeitung zu lesen. Weil er wusste: Ich verstehe eh nichts.

Das ist zwar persönlich sympathisch, aber natürlich eine Kapitulationserklärung des Lehrers. Das Problem ist oft der lineare Aufbau des Matheunterrichts. Ich habe im elften Schuljahr keine Chance mehr mitzukommen, wenn ich am Bruchrechnen scheitere. Das könnte man anders machen. Lernen bedeutet, das schon vorhandene Netz des Wissens zu erweitern – das sagen heute die Lernforscher. Man sollte also immer wieder an ganz unterschiedlichen Stellen anknüpfen.

Sie sind ein Mathematiker mit einer Faszination für die Vermittlung von Mathematik. Das fehlt vielleicht anderen.

In der Tat habe ich eine Leidenschaft für die Vermittlung. Man darf aber nicht zu viel wollen. Manche meiner Kollegen im Mathematikum sagen: Die Kinder sind gerade so begeistert, jetzt wäre doch die Gelegenheit, ihnen noch die dazugehörige Differenzialgleichung zu erklären. Ich denke: Es ist ganz wichtig, den richtigen Moment zu finden, um aufzuhören.

 

Ich bin neulich am Mathematikum in Gießen vorbeigekommen. Und ich habe kurz überlegt, ob ich reingehe. Aber die Angst, an die Schule erinnert zu werden, war zu groß.

Sie werden bei uns keine Formel sehen und kaum Zahlen. Man muss nicht schreiben, es gibt keine Tafel. Wir vermeiden jeden Geruch nach Schule.

Eine Mathe-Ass scheint der 1979 in Spanien geborene Fotograf Alejandro Guijarro auch nicht zu sein. Auf die Tafelbilder von Mathematikern und Physikern hat er jedenfalls einen eher ungewöhnlichen Blick: Die Zahlen, Gleichungen und Symbole, mit denen die Wissenschaftler eigentlich sehr exakte Beschreibungen der Welt liefern, sieht er als abstrakte Gemälde. Um diese Kunstwerke festzuhalten und vor dem Schwamm zu retten, hat er die Akademiker an Topuniversitäten weltweit besucht und ihre Kritzeleien abgelichtet. www.alejandroguijarro.com

Felix Dachsel arbeitet als freier Journalist und versucht gerade im dritten Anlauf, sein Studium zu beenden. Das hat aber nichts mit seiner Matheschwäche zu tun, sondern liegt wohl eher daran, dass er als Autor so gefragt ist und immer zu viel zu tun hat.