Wie alle Menschen verändern sich auch Schauspieler. Die besten tun es von Rolle zu Rolle. Wer alte Bilder und Filme von Tom Hardy betrachtet, ist dennoch verblüfft. In "No Turning Back" ist der britische Schauspieler das einzige, was wir für eineinhalb Stunden – der Film spielt nahezu in Echtzeit – zu sehen bekommen und studieren dürfen. Ist er älter geworden, oder schlicht ein Chamäleon? Man kannte ihn vielleicht aus Nebenrollen in Filmen wie "Inception", als Schwerverbrecher Bane in "The Dark Knight Rises", meist spielte er Kleinganoven. Es gab ihn mit und ohne Bart, nun trägt er wieder einen, doch das bubenhaft trotzige, unfertige Hardy-Gesicht vom letzten Jahr gibt es nicht mehr. Aus Ivan Locke, dem Mann hinterm Steuer eines sicher nicht billigen Wagens Marke BMW, spricht die Ruhe und Verlässlichkeit des perfekten Familienvaters. Den Bau eines 55-stöckigen Hochhauses würde man ihm ohne weiteres anvertrauen. Frauen wollten wahrscheinlich ein Kind von ihm. (Damit sind wir ganz nah am Problem.)
Ein Mann, eine Entscheidung
An einem verregneten Feierabend fährt Ivan Locke nicht nach Hause. Er nimmt die Autobahnabfahrt nach London, wo eine Frau, die er kaum kennt, auf ihn erwartet. Während er fährt, muss er seiner Ehefrau die Situation erklären, mit seinen Söhnen über Fußball reden, als wäre nichts geschehen, und nebenbei eines der derzeit teuersten Bauprojekte Europas in trockene Tücher bringen. 218 LKW-Ladungen Beton, zwei Frauen und zwei Jungs daheim – die Handy-Sprechanlage bekommt einiges zu tun.
Denn Ivan Locke, der Architekt, so brillant gespielt von Tom Hardy, hat eine Wahl getroffen. Die persönlichen Gründe dafür wird der Film noch benennen, doch das Gerüst dieses hochambitionierten Baus von Film steht nach fünfzehn Minuten. Locke beschwichtigt, erklärt, mahnt zur Eile, hört geduldig zu. Und lässt in einer Unzahl von Telefonaten, an deren anderem Ende wir nur die Stimmen hören, nie einen Zweifel zu, dass nichts, höchstens ein Unfall, ihn stoppen könnte.
Existenzielle Fragen
Nun könnte man das handwerkliche Können hervorheben, mit dem der Filmemacher Steven Knight seine minimalistische Idee verwirklicht. Es sind nicht nur die behände wechselnden Kameraeinstellungen. Wie impressionistische Gemälde versinnbildlichen die über die Windschutzscheibe flackernden – und von keinem Regisseur planbaren – Lichtreflexe von Straßenlaternen, Gegenverkehr und Armaturenbrett das Chaos, das Locke zu ordnen versucht. Auch die pointierten und bisweilen sehr komischen Dialoge – angekündigt vom permanent blinkenden Handy-Display – lassen keine Langeweile aufkommen: Locke verhandelt die nötigen Bauabsperrungen mit der Polizei, muss sich von seiner Frau wie vom aufgebrachten Chef als Clown beschimpfen lassen ("Bist du verrückt geworden, trägst du verdammt nochmal eine rote Nase?!"); ein überforderter Mitarbeiter versucht in zunehmend angeheitertem Zustand, seine Instruktionen umzusetzen. Man erfährt mehr über Betonverschalung, als man je wissen wollte. Gelegentlich weiß Locke wohl selbst nicht mehr, wovon er eigentlich spricht: "Ein kleiner Fehler, und alles bricht zusammen!" Sein fester Wille, alles wieder "normal" zu machen, scheint kaum mehr als ein frommer Wunsch.
Doch letztlich ist es Tom Hardy, der den Film alleine trägt. Mit seinem neuen Gesicht strahlt er eine Selbstgewissheit aus, die zugleich beruhigt und verstört. Hier ist ein Mann, der verantwortlich handeln, einen Fehler aus der Vergangenheit wieder gutmachen will. Doch was bedeutet Verantwortung, wenn sie zugleich riskiert, eine Familie zu zerstören? Geht es nur um sein eigenes Selbstbild, dem wir hier einen ganzen Film über ins Gesicht sehen dürfen? Moderne Männlichkeit, heißt es manchmal, konstituiert sich durch die permanente Krise. Hat er nicht diese Krise selbst gewählt, nur um immer wieder sagen zu können, er habe "keine Wahl"?
Ist das noch Kino?
Auch Regisseur Knight hat eine radikale Wahl getroffen. "No Turning Back" ist ein wuchtiges Drama um existentielle Fragen, aber ist es überhaupt ein Film? Was will er mit seinem Ein-Personen-Stück beweisen? Auch die Fragen sind berechtigt, doch man muss auch feststellen, dass sich solche "Experimente" häufen. In "Her" redete Joaquin Phoenix mit seinem Betriebssystem. Sandra Bullock in "Gravity", Robert Redford in "All Is Lost" – auch sie stecken in klaustrophoben Situationen, die eine Kamera mühsam aufbrechen muss, um daraus so etwas wie Kino zu machen. Doch was so geschaffen wird, ist durchaus eine neue und packende Art von Kino, vielleicht eine mögliche Antwort auf dessen eigene Krise. Die radikale Beschränkung der mittlerweile uferlosen Mittel will den Kinoraum neu definieren, zwingt das Publikum und sein Medium zu ungewohnter Symbiose. Nicht Zerstreuung, sondern Konzentration ist gefragt. Wenn denn "No Turning Back" einmal als Hörspiel erscheinen sollte, spräche zwar nichts dagegen. Doch hören dürfte man es nur wie der Protagonist selbst, im fahrenden Wagen, ohne Geschwindigkeitsüberschreitung, und am besten ohne Ausschaltknopf.
(Locke) Großbritannien 2013, Buch & Regie: Steven Knight, mit Tom Hardy u.a., o.A., 85 min, Kinostart: 19. Juni 2014 bei StudioCanal