Manfred Faber, 55, hat mehr als 20 Jahre Berufserfahrung als Fachlehrer für Mathematik und Physik. Er hat Schüler von der 1. bis zur 10. Klasse unterrichtet – „in allen Fächern außer Englisch und Sport“, wie er sagt, auch Sonderschüler, und er erinnert sich noch gut an die ersten Begegnungen mit der Bertelsmann Stiftung vor rund zehn Jahren. Zwei „freundliche, kompetente Damen“ hätten sich als Beraterinnen angedient. Er und seine Kollegen waren froh, dass sie mit ihnen über ihre Arbeitsüberlastung reden konnten. „Sie gaben uns Orientierung, wie wir untereinander und mit unseren Schülern umgehen sollen.“ Zwei Jahre dauerte das Coaching im Zuge eines Projektes für „Gute gesunde Schule“, an dem sich in Berlin die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft und gut ein Dutzend Schulen beteiligten. Seinen wirklichen Namen möchte Faber nicht gedruckt sehen, weil die Behörden ihn zur Verschwiegenheit verpflichtet haben. Zudem seien die Aktivitäten der Stiftung ein heikles Thema unter Kollegen. Es gäbe viele Fragen: Wieso macht die Stiftung das? Nur aus Interesse am Gemeinwohl? Ihr Geld kommt schließlich vom Medienunternehmen Bertelsmann, dem der Verlag Gruner + Jahr („Stern“, „Neon“) gehört, aber auch der Privatsender RTL, der eher wenig mit Bildung am Hut hat.
Auch Lehrer Faber hat so seine Fragen: Wozu die vielen Bewertungsbögen? Was steckt hinter den Schlagworten „Soft Skills“, „Effizienz“ und „Evaluierung“? Wieso werden Daten nicht von den Behörden, sondern mittels einer maßgeblich von der Bertelsmann Stiftung entwickelten Software ausgewertet, und was machen sie mit all den Informationen über Unterrichtsklima und -verlauf, obwohl sie nur ein Projekt zur „Guten gesunden Schule“ betreuen? Andere sind unkritischer – gerade in Zeiten, in denen am Bildungsetat gespart und Schulen mehr Effizienz abverlangt wird. Jedenfalls kommt die Stiftung bei Behörden und Ministerien mit ihren Rezepten gut an: Hunderte Schulen aus allen Bundesländern lassen Schulleiter und Lehrer mittlerweile durch die Stiftung coachen und haben sich im Gegenzug verpflichtet, ihren Unterricht mithilfe eines computergestützten Bewertungssystems selbst zu bewerten. Schüler, Lehrer und Eltern füllen Fragebögen aus, die Daten daraus landen bei der Stiftung.
Die Gewerkschaft bemängelt, dass der Einfluss privater Unternehmen zu groß wird
Vordergründig organisiert sie harmlose Projekte wie „Gute gesunde Schule“ und „Musikalische Grundschule“, veröffentlicht einen „Lernatlas“ und andere Studien und Umfragen zu Bildungsthemen oder tritt für sozial verträglich klingende Ziele wie die Abschaffung der Sonderschulen und gemeinsamen Unterricht mit Behinderten ein. Doch eigentlich, sagt Manfred Faber, sammle sie Daten: „Mehr Daten als die Schulbehörden und die Kultusministerien zusammen.“ Der Fragebogen für Lehrer umfasst 145 Fragen auf 22 Seiten, für Schüler ab der 7. Klasse 96 Fragen auf 16 Seiten und für Schüler bis zur 6. Klasse und Eltern jeweils 70 Fragen auf 14 beziehungsweise 10 Seiten. Jede Frage umfasst bis zu 8 Unterfragen. Faber empfand viele Fragen als unwissenschaftlich und die Kontrolle als lästig. Die Stiftung versichert, dass die Daten den Schulen gehören, außerdem seien keine Rückschlüsse auf einzelne Schulen möglich. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat dennoch Bedenken, weil die Stiftung sich vor 2008 angeblich vertraglich zusichern ließ, dass sie die Daten auch anderweitig nutzen kann. Wozu? Dazu gibt die Stiftung keine Auskunft. Sie betont allerdings, dass sie heute keine Nutzungsrechte an den Daten der Schulen besitze.
„Die Grenzen zwischen Staat und Markt, zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen neutralem Bildungsauftrag und privatwirtschaftlicher Indienstnahme sind fließender und löchriger, als es auf den ersten Blick scheint“, kritisiert die GEW in ihren regelmäßig erscheinenden Berichten zur Privatisierung des Bildungswesens. Dabei sei die Schule der Sektor, der am meisten dem Staat und dem Grundgesetz verpflichtet sei. Doch das grundgesetzliche Gebot der Neutralität und Chancengleichheit vertrage sich nicht mit Gebühren, Marktinteressen oder Kommerz. Es gibt mittlerweile einige gemeinnützige Stiftungen privater Unternehmen, die sich um Bildungsbelange kümmern: die Robert Bosch Stiftung, die Mercator-Stiftung, die Herbert Quandt-Stiftung, die Deutsche Bank Stiftung, die Telekom Stiftung, die Vodafone Stiftung oder die Stiftung des Haribo-Unternehmers Hans Riegel. Aber keine davon hat so viel Einfluss auf die Bildungspolitik wie die Bertelsmann Stiftung aus Gütersloh. Die besitzt mittlerweile (zusammen mit der Stiftung zur Förderung der Hochschulrektorenkonferenz) eigene Tochterinstitute wie das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), mit dem sie einzelne Universitäten und die Kultusministerien der Bundesländer berät und ein beliebtes Ranking der Universitäten erstellt. Mit ihm bestimmt sie, welche Hochschulen starken Zulauf an Studenten und Geldmitteln erhalten.
Aus dem Schuldirektor könnte so eine Art Manager werde
Die GEW beschreibt die Bertelsmann Stiftung als Sphinx mit zwei Gesichtern: als „Dienerin der Gesellschaft und als trojanisches Pferd der neoliberalen Privatisierer“. Die Gewerkschaft hat 2009 beschlossen, nicht mehr mit der Stiftung zu kooperieren, weil die Ziele der Stiftung „nicht mit denen der GEW vereinbar“ seien. Während die GEW von Staatlichkeit, Steuerfinanzierung und Demokratie geprägt sei, gehe es Bertelsmann um Wettbewerb, Markt, Effizienz und Effektivität. In Deutschland würde die Bertelsmann Stiftung gerne den Beamtenstatus der Lehrer abschaffen und ihre Arbeitsverträge flexibler gestalten. Damit stünde Bertelsmann und anderen Unternehmen auf einen Schlag ein neues Geschäftsfeld offen: Mit Billiglehrern könnten sie Schulen betreiben und Gewinn erwirtschaften. Bislang ist ihnen das mit allgemeinen Schulen noch nicht gelungen, weil die Personalkosten zu hoch sind.
Zunächst in NRW, dann in anderen Bundesländern hat sie das Modell der selbstständigen Schule etabliert. Dabei soll ein Schulleiter selbst entscheiden, ob er seinen Etat lieber für ein Chemielabor oder eine zusätzliche Lehrkraft einsetzen will. Die GEW warnt davor, dass Schulleiter so verleitet würden, Aushilfskräfte und Billiglehrer einzustellen. Mit viel Geld und zahlreichen Konferenzen, mit langem Atem und einem ausgesuchten Netzwerk von Wissenschaftlern, Politikern und Meinungsführern haben die Stiftung und ihr Centrum für Hochschulentwicklung die Hochschulpolitik reformiert. In das Hochschulfreiheitsgesetz in NRW wurden Anregungen der Stiftung direkt aufgenommen, und dort und in anderen Bundesländern hat das CHE ihr Modell der „entfesselten Hochschule“ durchgesetzt, die in sogenannten Hochschulräten von Wirtschaftsmanagern beraten wird und für deren Bedürfnisse am Markt ausbildet. Sie verändern die Ausrichtung, indem sie Studenten nicht mehr allgemein für einen Beruf bilden, sondern ausbilden.
Keks- und Softdrinkhersteller finanzieren Unterrichtsmaterialien
Alte und neue Akteure kämpfen um Marktanteile. Zum einen dringen Unternehmen in neue Felder vor. Der Keks-Hersteller Bahlsen, Coca-Cola oder Sparkassen finanzieren Unterrichtsmaterialien. Der Versicherungskonzern Allianz organisiert einen kostenlosen „Berufschancen-Test“ für Schüler – und nutzt die gesammelten Daten zur Kundenwerbung. Das Potential für Geschäftsideen ist riesig: Bundesweit gibt es etwa 45.000 Schulen mit rund zwölf Millionen Schülern, die über rund zweieinhalb Milliarden Euro Taschengeld und Geldzuwendungen jährlich verfügen. Seit einigen Jahren drängen auch neue private Anbieter auf diesen Markt. Sie verkaufen vor allem Dienstleistungen in den Bereichen Qualitätsentwicklung, Evaluation, Beratung, Coaching von Schulleitern, Fortbildung von Lehrkräften, E-Learning sowie Entwicklung und Vertrieb von Unterrichtsmaterialien. Dazu gehören beispielsweise der Privatschulkonzern Phorms Holding SE und der Berliner Verein Bildungscent e. V. Phorms unterhält in Berlin, Hamburg, Frankfurt, Steinbach/Taunus und München Kitas, Vorschulen, Grundschulen und Gymnasien und unterrichtet bilingual rund 1.800 Kinder.
In Stuttgart residiert mit Klett einer der größten Schulbuchverlage des Landes, der sich selbstbewusst „das führende Bildungsunternehmen in Deutschland“ nennt. Das Geschäft läuft international: Die Klett Gruppe betreibt 59 Einzelfirmen an 40 Standorten in 17 Ländern. Klett verlegt nicht nur das klassische Schulbuch, den „Grammatiktrainer“ sowie Ratgeber für die erfolgreiche Bewerbung, Fachliteratur oder Tolkiens „Der Herr der Ringe“. Im Angebot sind heute auch Schulen und Bildungseinrichtungen für jede Altersstufe: für Kleinkinder über Schüler bis zu Erwachsenen. Dazu hat Klett im Oktober 2011 eine Tochterfirma gegründet, die derzeit rund 30 Kitas, Krippen und Ganztagesschulen betreibt und zum Schuljahr 2012/13 eine Ganztages-Grundschule in Stuttgart starten will.
Vor Jahren hat auch Bertelsmann mit seiner Dienstleistungstochter Arvato schon einmal Pläne für das Betreiben von Privatschulen in Deutschland entwickelt. Kritiker fürchten, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Bertelsmann die Pläne aus der Schublade holt. Eine Tochterfirma von Bertelsmann hat bereits eine Plattform für Online-Nachhilfe entwickelt. „An dem Megageschäft Bildung kommt das Unternehmen Bertelsmann gar nicht vorbei“, sagte Stiftungschef Gunter Thielen gegenüber der FAZ und fügte vorsichtshalber an: „Aber wir passen auf, dass wir hier die Dinge auseinanderhalten. Die Stiftung wird ja oft als Speerspitze der unternehmerischen Interessen des Konzerns beschrieben. Das ist komplett falsch.“
Zwar versichert die Bertelsmann Stiftung, dass sie unabhängig agiere. Aber ihr Chef Gunter Thielen ist zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der Bertelsmann AG und muss deshalb auch Interesse am Gewinn haben. Das Unternehmen sieht einen riesigen Wachstumsmarkt – Analysten schätzen das Volumen des tertiären Bildungssektors weltweit auf über eine Billion Dollar. Gemeinsam mit Hochschulen will Bertelsmann nun Online-Studiengänge und zusammen mit der Brandman University in den USA ab August auch bilinguale Studiengänge anbieten, die vor allem auf die spanischsprechende Bevölkerung in den USA zugeschnitten sein werden. Wenn die Privatisierung der Bildung in Deutschland weiter voranschreitet, wird man dieses Geschäft kaum auf die USA beschränken.