Iván Ortiz dachte sich nichts dabei, als er an einem schönen Juniabend 2006 ein Taxi heranwinkte, denn Coyoacán gilt als relativ sicheres Viertel von Mexico City. Hier wohnen Künstler, Mittelstandsfamilien und Studenten wie er. Der 26-jährige Betriebswirtschaftsstudent wollte nur seine Freundin besuchen. Als Angehöriger einer Mittelschichtsfamilie, in der Stadt geboren und aufgewachsen, kannte er Verbrechen und Gewalt nur aus Zeitungsberichten und Fernsehnachrichten. Nur einmal war einer von Iváns Freunden Opfer eines Überfalls geworden. Als das für Mexico City typische grün-weiße VW-Käfer-Taxi am Straßenrand hielt, ahnte Iván Ortiz daher nicht, dass in wenigen Minuten der schlimmste Albtraum seines Lebens beginnen würde.
Die von rund 20 Millionen Menschen bewohnte, auf 2200 Metern über dem Meer vor sich hinwuchernde mexikanische Megametropole ist die größte Stadt Lateinamerikas und nach Tokio die zweitgrößte Stadt der Welt. Ihr internationales Image ist verheerend, besonders bei Ausländern, die sie noch nie besucht haben. Ein steinerner Moloch. Eine gigantische Anhäufung von Schmutz und Elend. Ein unbezähmbares Verkehrschaos, überlagert und durchdrungen von einer Smogwolke, die das Atmen zur Qual macht. Vor allem jedoch gilt Mexico City als Metropole, in der man sich keine Sekunde sicher fühlen kann. Dieses Schreckensbild ist zwar nicht völlig falsch, aber doch einseitig – denn Mexico City birgt auch unbestreitbare Schönheiten: ein teilweise verkehrsfreies, architektonisch sehr wertvolles historisches Zentrum, Parks und von Bäumen gesäumte Alleen, Prachtboulevards und reiche Geschäftsviertel, eine hervorragend funktionierende U-Bahn, deren Netz fast das ganze Stadtgebiet abdeckt. Und wer gefährliche Gegenden meidet und die auch in europäischen Großstädten üblichen Vorsichtsmaßnahmen trifft, kann sich eigentlich in der Stadt bewegen, ohne an der nächsten Straßenecke überfallen und ausgeraubt zu werden.
Die mexikanische Megastadt zu verharmlosen wäre allerdings ebenso falsch. Mexiko gehört weltweit zu den Ländern mit dem extremsten Gefälle zwischen Armut und Reichtum, von seinen rund 100 Millionen Einwohnern lebt fast die Hälfte im Elend. Viele von ihnen zieht es in die Hauptstadt, in der meist trügerischen Hoffnung auf eine bessere Existenz. Stattdessen sind sie mit der in den Elendsvierteln herrschenden Gewalt konfrontiert, bekommen bestenfalls miserabel bezahlte Gelegenheitsjobs, verrohen in einem gnadenlos ausgefochtenen Überlebenskampf. Zugleich haben sie Tag für Tag die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht vor Augen, ihre Annehmlichkeiten, ihren Luxus – ein hochexplosives Nebeneinander von Erster und Dritter Welt, von dem kaum eine Metropole der Südhalbkugel verschont bleibt. Die Brutalität, zu der ein Teil dieser vom regulären Erwerbsleben Ausgeschlossenen fähig ist, erfuhr Iván Ortiz während seiner Taxifahrt.
„Als der Wagen vor einer roten Ampel anhielt, rissen plötzlich zwei junge Typen die Beifahrertüre auf und drängten sich zu mir auf den Rücksitz. Sie bedrohten mich mit einem Messer, drückten mir den Kopf nach unten und zwangen mich, die Augen zu schließen. Ob der Taxifahrer mit ihnen unter einer Decke steckte, weiß ich nicht. Aber ich bezweifle es, denn er reagierte genauso geschockt wie ich selber“, erzählt Iván Ortiz. Der Student war einem der in Mexico City gängigsten Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen: dem secuestro express, zu Deutsch „Express-Entführung“. Die Täter nahmen ihm Handy und Brieftasche ab, ließen sich zum nächsten Geldautomaten fahren und verlangten den Code seiner Bankkarte. In der vagen Hoffnung, eine vorbeifahrende Polizeipatrouille werde dem Überfall ein vorzeitiges Ende bereiten, versuchte Ortiz, Zeit zu gewinnen, und nannte eine falsche Zahlenkombination. Einer der Entführer blieb bei ihm im Auto, der andere ging zum Geldautomaten. „Als er zurückkehrte, fragte er mich außer sich vor Wut, ob ich irgendwelche dämlichen Spielchen mit ihnen spielen wolle. Dann schnitt er mir mit dem Messer mitten ins Gesicht. Ich bekam Todesangst und verriet die richtige Kombination.“
Um die Ausbeute bei Express-Entführungen gering zu halten, ist in Mexiko der Bezug von Bargeld am Automaten auf umgerechnet 270 Euro pro Tag beschränkt – eine eigentlich nützliche Maßnahme. In Ortiz’ Fall jedoch verlängerte sie den Schreckenstrip um einige Stunden. „Es war etwa neun Uhr abends. Wir fuhren drei Stunden ziellos in der Stadt herum, ich musste den Kopf immer unten behalten. Meine Angst, ermordet zu werden, wuchs von Sekunde zu Sekunde. Innerlich hatte ich mit dem Leben abgeschlossen.“ Nach Mitternacht hoben die Täter erneut Geld ab, danach drückten sie Ortiz ein paar Münzen in die Hand und ließen ihn mit blutender Gesichtswunde laufen. Zur Polizei ging Iván Ortiz nicht. „Wozu auch? Ich hatte die Gesichter der beiden ja nicht gesehen. Die Chance, den Fall aufzuklären, war null.“
Neben der Express-Entführung sind auch sogenannte secuestros virtuales, „vorgetäuschte Entführungen“ bei Verbrechern beliebt – eine psychologisch perfide Variante, der vor einigen Wochen die Familie der 16-jährigen Gymnasiastin Maribel Ocampo zum Opfer fiel. „Während ich im Kino war, rief jemand bei meinen Eltern an und behauptete, ich sei soeben gekidnappt worden. Das Lösegeld von 5000 Dollar müsse in einer Stunde übergeben werden, sonst würde ich sterben.“ Zum Glück hatte die Schülerin ihr Handy während des Films nicht ausgeschaltet, sondern lediglich auf Vibration gestellt. Die Mutter schickte ihr eine verzweifelte SMS, der Betrug flog auf. Und dann gibt es natürlich auch noch die tatsächlichen Entführun-gen, bei denen das Opfer oftmals tage- oder wochenlang festgehalten wird und die Angehörigen sich mit Lösegeldforderungen in Millionenhöhe konfrontiert sehen.
Exakte Zahlen zu dieser Entführungsvariante gibt es nicht, weil viele Opfer gar nicht erst zur Polizei gehen. Die offiziellen Zahlen sind jedoch erschreckend genug: Statistisch gesehen gibt es nirgendwo auf der Welt so viele Entführungen wie in Mexiko, wobei sich in der Hauptstadt des Landes pro 100000 Einwohner jährlich fast ein Fall ereignet – doppelt so oft wie in der als Hochburg des Kidnappings verschrienen kolumbianischen Stadt Medellín. Daneben bringt die weit verbreitete Kultur der Illegalität zahlreiche andere Wucherungen hervor: ganze Märkte mit geklauten oder gefälschten Uhren, Jeans und DVDs, Drogenhandel, Diebstähle und bewaffnete Raubüberfälle. Die offizielle Mordrate ist hingegen mit 8,5 Fällen pro 100000 Einwohner relativ gering. Sie liegt beispielsweise weit hinter den brasilianischen Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo (mehr als 70 Fälle), ist gleichzeitig aber deutlich höher als etwa in Berlin (4,9) oder Hamburg (3,8). Laut Umfragen sind 25 Prozent der Hauptstadtbewohner in den letzten drei Monaten Opfer eines Verbrechens geworden, während 76 Prozent sich vor einer Entführung fürchten.
In ihrer ständigen Angst vor der Alltagskriminalität sind die Mittel- und vor allem die Oberschicht längst dazu übergegangen, sich teure Oasen der Ruhe und Sicherheit zu schaffen. Noble Wohnviertel wie Lomas de Chapultepec, Santa Fe oder Pedregal befinden sich in einem ständigen Belagerungszustand, der Kampf gegen das Verbrechen wird mit allen denkbaren Abwehreinrichtungen und einem Heer privater Sicherheitskräfte geführt. Die Mauern des Reichtums sind mit Stacheldrähten und elektrisch überwachten Stahlgitterzäunen geschützt, Videokameras richten sich auf vollautomatische Garagentore, Alarmanlagen, Bewegungsmelder; schusssichere Schiebefenster halten Unbefugte fern. Die Kinder werden im Auto zur Schule gefahren, und auch Erwachsene vermeiden es, wenn immer möglich, mehr als die paar notwendigen Schritte von der Haus- zur Wagentüre zu gehen. Die Zufahrten zu den Reichenvierteln sind durch Straßensperren gesichert, Besucher werden nur hineingelassen, wenn der Sicherheitsmann hinter dem Schlagbaum das telefonische Einverständnis eines Ansässigen erhalten hat. „Ja, wir leben hier unter einer Glasglocke, wir können uns in unserer eigenen Stadt nicht mehr frei bewegen“, sagt eine Frau, die gerade in ihrem sechssitzigen Van vor einer Absperrung steht. „Aber anders ist der Krieg gegen das Verbrechen nicht zu gewinnen.“
Eine Hochburg der Illegalität in Mexico City ist das nördlich der Altstadt gelegene Viertel Tepito, das auch barrio bravo genannt wird – tapferes und zugleich wildes Viertel. Seine Bewohner gehören fast ausschließlich zur Unterschicht, sie sind Arbeiter, Händler oder Kleinkriminelle, der Indio- und Mestizenanteil ist hoch, laut Schätzungen haben rund 60 Prozent der Jugendlichen die Schule vorzeitig abgebrochen. Tepito besteht aus niedrigen Zementhäusern und engen Gassen, heruntergekommenen Kellerkneipen, mit Sperrgut verstellten Hinterhöfen, zwischen Abfallhaufen spielen Kinder und streunen Hunde. Auf den Straßen herrscht ein atemberaubendes Menschengedränge, ein Chaos aus Ständen und Zeltplanen, ein Wirrwarr von Verkaufstischen und auf dem Boden platzierten Auslagen. Tepito ist ein riesiger Markt für Drogen, Diebesgut und Raubkopien, die Ansammlung von Fernsehern, Videokassetten, Uhren, Kleidern und Parfüms ist unüberschaubar. Hin und wieder fällt die Polizei in das Viertel ein, um illegale Waren zu beschlagnahmen und so einen kleinen Sieg in einem Krieg zu feiern, den sie längst verloren hat. Denn schon am folgenden Tag kehrt Tepito jeweils zu seinem anarchischen Alltag zurück. Natürlich verkaufe er Diebesgut, sagt ein junger Händler, und ja, in einem angrenzenden Hinterhof deale er auch mit Kokain und Ecstasy. Ist er sich bewusst, dass er damit illegal handelt? Hat er dabei manchmal ein schlechtes Gewissen? Sein Blick ist ein einziger Ausdruck grenzenloser Verständnis-losigkeit. „Das tun wir hier doch alle, das haben wir schon immer getan. Etwas anderes gibt es gar nicht.“
Die Stadtbehörden versuchen der Kriminalität Herr zu werden, indem sie immer neue, noch spezialisiertere Polizeieinheiten gründen und auf den von Touristen besuchten Straßen und Plätzen des Zentrums bewaffnete Sicherheitskräfte patrouillieren lassen. Vor drei Jahren ließ eine Gruppe von Unternehmern Rudolph Giuliani als Berater einfliegen. Gilt doch der ehemalige New Yorker Bürgermeister mit seiner Zero Tolerance-Philosophie als Meister der Verbrechensbekämpfung. Genutzt hat es wenig. Laut María Elena Morera, Präsidentin der Opferorganisation „México unido contra la delincuencia“ (Mexiko vereint gegen das Verbrechen), bewirken zusätzliche Polizeieinheiten bestenfalls eine kurzfristige Verbesserung. „Mexikanische Polizisten sind schlecht bezahlt und deshalb leicht zu bestechen. Außerdem ist ihre Ausbildung vollkommen ungenügend.“
Das geringe Vertrauen der Bevölkerung in die Ordnungshüter spiegelt sich in der Statistik wider: Von hundert Verbrechen werden schätzungsweise lediglich 25 angezeigt, und nur in 1,4 Prozent der Fälle kommt es zu einer Verurteilung. „Wer in Mexiko ein Delikt verübt, kann damit rechnen, ungeschoren davonzukommen. Polizei und Justiz müssen nicht härter gegen die Verbrecher vorgehen, sondern effizienter“, sagt María Morera – aber solange die Armut nicht besiegt sei, werde man auch das Verbrechen nicht wirklich bezwingen. Dabei hätte gerade María Morera allen Grund, mehr Strenge und höhere Gefängnisstrafen zu fordern – denn vor vier Jahren wurde ihr Mann gekidnappt. Als die Polizei nach einem Monat sein Versteck schließlich aufspürte und ihn befreite, hatten ihm die Entführer bereits vier Finger abgeschnitten, um sie seiner Frau einzeln und im Abstand weniger Tage per Post zuzuschicken. Damit wollten sie eine Lösegeldsumme erpressen, über welche die Fami-lie aber schlicht nicht verfügte.
María Morera hat dieses traumatische Erlebnis überwunden, indem sie den Kampf gegen das Verbrechen zu ihrem Lebensinhalt machte. Die ehemalige Zahnärztin arbeitet heute ausschließlich für „México unido contra la delincuencia“, sie ist längst eine öffentlich bekannte Figur, die vom Polizeipräsidenten und vom Bürgermeister empfangen und um Rat gefragt wird. „Ich empfinde die Krimina-lität nicht mehr in erster Linie als persönliche Bedrohung, sondern als Bedrohung für alle. Ich bin tagtäglich mit Vorfällen konfrontiert, die noch schlimmer sind als jener, den ich erlebt habe. So ist es mir gelungen, der Entführung meines Mannes eine Art Sinn zu geben und trotz allem in dieser Stadt weiterzuleben.“
Auch Iván Ortiz hat seine seelische Erschütterung mittlerweile mehr oder weniger verarbeitet, die Albträume werden seltener, er traut sich wieder, allein auf die Straße zu gehen. Dennoch hat sich das Lebensgefühl verändert, eine leise Unsicherheit ist zu seiner ständigen Begleiterin geworden. Im Unterschied zu früher empfindet er die von Mexico City ausgehende Bedrohung nicht mehr als abstrakt, sondern als real. „Ich bin mir bewusst, dass es mich aufs Neue treffen könnte, jederzeit und überall.“ Taxis benutzt er seit einigen Monaten zwar wieder, aber er betätigt nach dem Einsteigen als Erstes die Türsicherung.