Waleed Arafa trifft sich mit seinen Freunden gern im Citystars Center, einer hypermodernen Shoppingmall in Nasr City. In diesem Stadtteil Kairos auf der östlichen Nilseite wohnt und arbeitet er auch. Im Casper & Gambini’s sitzen sie dann beim Kaffee, auf Bildschirmen laufen Musikvideos, im gläsernen Atrium vor den Tischen schlendern zumeist junge Leute an Fotos von überlebensgroßen Models im Bikini vorbei. Die Schaufenster der mehr als 800 Läden erinnern an Schreine, in denen ausgestellt wird, was die Menschen anbeten sollen: Springfield, Levi’s, iPod, Esprit.
„Diese Mall ist ein Tempel“ , sagt der gläubige Muslim Waleed, er sagt es ohne Verachtung. Der 28-jährige Ägypter ist in den USA geboren, er ist mit solchen Konsumtempeln aufgewachsen. Seit er sieben war, lebt er in Kairo, hier hat er an der American University Architektur studiert. Der Islam ist für ihn das Fundament seines Lebens. Alles, was er tut und denkt, basiert auf seinem Glauben. Für Jugendmagazine, in denen es ansonsten überwiegend um Pop und Lifestyle geht, schreibt er über religiöse Themen wie die Diskussion um Mel Gibsons Film Die Passion Christi, den Karikaturenstreit, das Verschleierungsgebot für Frauen oder die Definition des Begriffs „Dschihad“.
Moschee und Mall sind zwei Extreme, die sich in Kairo scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. In den zahllosen Shoppingmalls, in Cafés, Bars und Klubs ist alles das zu finden, was in den Moscheen als Bedrohung des Glaubens verteufelt wird. Hemmungsloser Konsum und die Gier nach materiellen Gütern; junge unverheiratete Liebespaare, die sich hier treffen, weil es zu Hause als Sünde gälte; Regale voller freizügiger Mode, als gäbe es die islamischen Bekleidungsvorschriften nicht. Im Virgin Megastore im Erdgeschoss des Citystars Centers füllen Tausende CDs und DVDs mit westlicher Popmusik und Hollywoodfilmen die Regale. Eine Koran-rezitation sucht man vergebens.
Für die meisten jungen Kairoer ist der Lifestyle, den sie hier sehen, unerreichbar. Schätzungsweise 80 Prozent aller Bewohner der Stadt besitzen nur, was sie zum täglichen Überleben brauchen. Aber wenn sie nicht in Einkaufszentren gehen oder in einen der Alkoholläden, die die Heineken-Brauerei in den letzten Jahren in der Stadt eröffnete, dann kommt die Versuchung zu ihnen nach Hause: in Werbespots oder in arabischen Videoclips, die so erotisch sind, dass sie schon für Parlamentsdebatten sorgten.
„Wir sind für solche Zerreißproben nicht trainiert“, sagt Waleed Arafa, „kaum jemand in dieser Stadt hat noch eine tiefgründige Beziehung zu unserer Kultur oder Religion.“ Die Eltern seien ratlos, die Jugendlichen ebenfalls und beide Generationen deshalb anfällig für das, was Waleed „Instant-Islam“ nennt. Auf Audiokassetten und in Fernsehsendungen werben Laienprediger und Vorstadtimame vor allem um junge Muslime. Aufnahmen ihrer Reden und Gebete kann man auf Märkten und an Musikkiosken kaufen, die TV-Shows laufen auf arabischen Satellitenkanälen. Mit eifernder Stimme drohen die Prediger dort mit dem Höllenfeuer. Eines der meistgebrauchten Wörter ist haram, Sünde. Dem christlichen Nachbarn zu Weihnachten gratulieren? Haram! Popmusik? Haram! Mit Westlern befreundet sein? Sünde! Eine Frau ohne Schleier? Eine Sünderin!
Waleed fürchtet, an diesem Instant-Islam könnte die Gesellschaft zerbrechen. Nicht in zwei oder drei Teile, sondern in tausend, denn jeder der Prediger hat seine eigene religiöse Sicht, oft geprägt vom Hass auf den Andersdenkenden. Ihre leichteste Beute: entwurzelte, orientierungslose Großstadtjugendliche, die von der sozialen Misere frustriert und von der globalisierten Moderne überfordert sind. „Die Prediger servieren ihnen den Islam wie einen Hamburger im Fastfood-Restaurant“, sagt Waleed. Sie wecken den Eindruck, als könne das Anlegen des Schleiers oder das Wachsenlassen eines Bartes nach dem Vorbild des Propheten Mohammed alle Probleme lösen. Für Waleed vermitteln Äußerlichkeiten und oberflächliche Verhaltensregeln aber lediglich ein billiges Zugehörigkeitsgefühl, ähnlich wie das Fantrikot eines Vereins oder die Schlachtrufe der Fans im Stadion.
Jahrhundertelang hatte die Kairoer Al-Azhar-Universität die maßgebliche Stimme und war das Zentrum der sunnitisch-muslimischen Lehre. Heute rauscht die Stadt nur so vom religiösen Stimmengewirr. Hier werden muslimische Webportale und TV-Sender produziert, erscheinen religiöse Broschüren, Bücher und Flugblätter, oft mit obskurem Inhalt.
Eine der Stimmen gehört der islamistischen Muslimbruderschaft, die fest in Kairo verwurzelt ist und im Stadtteil Manial in Süd-Kairo ihr Hauptquartier besitzt. Zu ihren prominentesten jungen Mitgliedern gehört Ibrahim El Houdaiby. Er schreibt einen Blog und sitzt in der Chefredaktion der Webseite der Bruderschaft. Er bezeichnet sich selbst als Islamisten und solidarisiert sich doch öffentlich mit Kareem Amer, einem Blogger aus Alexandria, der Anfang des Jahres für heftige Kritik am Islam zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. „Der islamische Staat, den ich mir wünsche“, sagt El Houdaiby, „ist demokratisch.“ Aber immer noch ist die Bruderschaft illegal in Ägypten und hat bislang nicht eindeutig bewiesen, dass sie keine Organisation mit fundamentalistisch-totalitären Zielen ist.
Monadel, 31, und Nadoo, 30, sind enge Freunde. Monadel betet und befolgt das islamische Alkoholverbot. Nadoo betet nicht und trinkt hin und wieder ein Bier. Beide sehen sich als Muslime. Und weil sie mehr verbindet als trennt – unter anderem die Begeisterung für Rapmusik –, haben sie vor zwei Jahren die Arab Rap Family gegründet. Inzwischen tritt die Band mit bis zu zehn Musikern auf, auch mal vor 5000 Menschen wie beim SOS Music Festival an der ägyptischen Mittelmeerküste. „Wir sind Musiker“, sagt Nadoo, „weil wir eine Message haben.“ Ihr Song Soldiers Behind the Microphone hat die Botschaft, dass die Muslime und die Christen Ägyptens dieselbe Hautfarbe haben und Geschwister seien. „Meine Eltern haben mir beigebracht“, sagt Monadel, „dass es egal ist, welcher Religion man angehört.“
Diese Botschaft aber ist derzeit nicht populär, und selbst der Produzent der Arab Rap Family wünscht inzwischen, die Band würde muslimischen Erbauungsrap produzieren. Welche Art religiöser Pop derzeit kommerziellen Erfolg hat, ist auf dem Videoclipkanal Melody TV zu sehen: In drei Strophen erzählt ein ägyptischer Popstar von drei Frauen, die beschließen, den Schleier zu tragen, unter ihnen ein Schulmädchen von vielleicht zwölf, 13 Jahren. „Bravo“, heißt es im Refrain. Das Mädchen wird im Video mit Süßigkeiten für den Schleier belohnt. Für Nadoo und Monadel kommt eine derartige Anbiederung an den reli-giösen Trend nicht in Frage. Ihr Produzent hat ihnen für solch einen Song den Deal ihres Lebens versprochen.
Ohne den Großstadtmoloch Kairo wäre eine Band wie die Arab Rap Family undenkbar. In der Anonymität der Megacity ist der Anpassungsdruck geringer, hier finden sich Leute, die offen genug sind für die Botschaft der Band. Zum Beispiel der Veranstalter Mohamed Al-Sawy, in dessen unabhängigem Klub „Al Sakia“, auf Deutsch „Das Schöpfrad“, die Arab Rap Family auch schon auftrat. Neben HipHop, Jazz und Hardrock werden im „Al Sakia“ Klassik sowie Lesungen angeboten, genau wie religiöse Programme. Im Young Muslim Club werden Kinder zwischen zehn und 14 Jahren, anders als von den meisten ihrer Religionslehrer in Schule und Moschee, einfach als Kinder behandelt. Sie dürfen spielen und erfahren nebenher über den Islam zum Beispiel, wie viel er mit dem Judentum und dem Christentum gemeinsam hat. „Besonders schlimm finde ich die Kassettenprediger“, sagt Al-Sawy, „sie drohen mit Gottes Strafen, statt zu zeigen, wie schön Religion ist und dass der Islam kam, um den Menschen Freude zu bringen.“ Mehr als zwanzig Kinder nehmen regelmäßig am Young Muslim Club teil, drei-, viermal pro Woche, Jungen wie Mädchen. Die meisten der Mädchen sind unverschleiert.
„Auch ohne Schleier“, sagt Reham Elnory, „kann eine Frau eine gute Muslimin sein.“ Für die 26-Jährige selbst ist der Schleier dagegen eine absolute Herzensangelegenheit. Sie hat sich bewusst für ihn entschieden, wie viele andere junge Frauen in Kairo auch. Die Zahl derer, die ihn tragen, hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Dennoch glaubt Reham nicht, dass mehr sichtbare Schleier auf den Straßen auch bedeuten, dass es mehr gläubige Frauen gibt. „Äußerlichkeiten werden immer wichtiger. Mir bedeuten innere Werte wie Ehrlichkeit und Integrität mehr.“ Diese zu entwickeln sei harte Arbeit und erfordere Geduld. Aber heutzutage müsse alles schnell gehen. Wer Licht will, drückt auf den Lichtschalter, wer Geld abheben will, steckt die Kreditkarte in den Geldautomat. Und wer fromm sein möchte, der lege eben den Schleier an, meint Reham.
In den Cafés in Kairo sitzen verschleierte und unverschleierte Mädchen häufig zusammen, Freundinnen, Kommilitoninnen. Reham sieht darin kein Zeichen von Toleranz. „Die Mädchen mit Kopftuch sind in Wirklichkeit im Innern dieselben geblieben, obwohl sie sich plötzlich für die Kopfbedeckung entscheiden.“ Von den Freundinnen mit dem offenen Haar trenne sie ein Stück Stoff, aber oft kein Zuwachs an Spiritualität.
Jungen Menschen in Kairo, die wie die Studentin Reham Elnory einen tieferen Zugang zu ihrer Religion suchen, ohne zwanghafte Abgrenzung von Andersdenkenden, gibt Moez Masoud eine Stimme. Masoud ist Moderator islamischer TV-Programme. Über den Satellitensender Iqra erreicht seine englischsprachige Show Stairway to Paradise Millionen in Asien, Afrika und Europa. Im islamischen Fastenmonat, der Mitte September beginnt, wird er vier Wochen lang täglich um Mitternacht, also zur besten Ramadan-Sendezeit, auf Arabisch die Show Der richtige Weg präsentieren.
Moez Masoud sagt: „Ich bin kein Arbeiter, der Gott verehrt wie einen Arbeitgeber, weil er von ihm seinen Lohn erhält. Ich bete Gott an, weil ich ihn liebe.“ Junge Menschen zu Gläubigen zu machen, indem Druck auf sie ausgeübt oder Furcht vor Gottes Höllenqualen erzeugt wird, hält der 29-Jährige einfach für falsch. Die Unterteilung in „wir und sie“, in Gläubige und Ungläubige, betrachtet er als noch dazu gefährlich. „Der Islam ist keine totalitäre Partei mit Gott auf Platz eins der Mitgliederliste“, stellt er klar.
Masoud glaubt fest an einen Grundsatz, der mehrmals in den Überlieferungen des Propheten Mohammed zu finden ist. Er lautet sinngemäß: Egal, wie viel Schuld und Sünde der Gläubige auf sich lädt, Gott wird ihm verzeihen – sofern er den Glauben an Gott, und nur an ihn, nie verloren hat. Diesem Grundsatz versucht auch er zu folgen: „In meiner Show fordere ich dazu auf, den Westen zu lieben. Lasst uns den Westen lieben! Wir sollten Taten verurteilen, nicht Menschen. Wir verabscheuen Sünden, aber nicht den Sünder!“
Waleed Arafa, 28, ist Architekt und schreibt für verschiedene Magazine und Websites über religiöse Themen. Hier steht er vor einer Moschee in Neu-Kairo.