Santa Cruz del Islote gehört zu den am dichtesten besiedelten Flecken der Erde. Die winzige Karibikinsel, 20 Kilometer vor der Küste Kolumbiens gelegen, ist komplett von Häusern mit Wellblechdächern zugestellt, hochgerechnet leben hier mehr als 100.000 Einwohner pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: München kommt gerade mal auf 4.468. Auf Islote gibt es keine Polizei, keine Ärzte oder Rechtsanwälte, ja nicht einmal eine Kirche. Mehr als die Hälfte der gut 1.100 Einwohner sind Kinder – im Schnitt hat jedes Paar fünf davon. Wir sind halt Aufreißerinnen, sagen die Frauen.
So schildert der argentinische Journalist Martín Caparrós diesen sonderbaren Ort zwischen den Wellen in einer von insgesamt 17 Reportagen, die Carmen Pinilla und Frank Wegner für das Buch „Verdammter Süden“ zusammengetragen haben. Caparrós will herausfinden, warum Menschen ausgerechnet dieses Stück Unansehnlichkeit bewohnen.
Wie viele seiner Kollegen interessieren ihn nicht die weißen Sandstrände an der Karibikküste, die blank gescheuerten Büros der Politiker oder die glitzernde Konsumwelt, sondern das Rätselhafte, das Bizarre, das Andere, das Schöne im Hässlichen. In den meist politisch klar positionierten Geschichten geht es den Autoren darum, mit den Klischees aufzuräumen, die Lateinamerika anhaften, diesem soziokulturellen Lebensraum von rund 500 Millionen Menschen, der sich von Tijuana bis nach Feuerland erstreckt. Und es gibt noch einen zentralen gemeinsamen Nenner: Nähe.
Nähe zu den Protagonisten, Nähe zur Sache, verstärkt durch ein bewusstes Ich, mit dem viele der Autoren die Subjektivität ihrer crónicas, ihrer literarischen Reportagen, betonen. Sechs Monate lang lebte zum Beispiel Andrés Felipe Solano nur von Mindestlohn in der zweitgrößten kolumbianischen Stadt Medellín: „Diese Reise beginne ich mit den Gelübden eines Mönches: Ich gelobe Enthaltsamkeit und Armut … Ich weiß noch nicht, wo ich wohnen werde, wie ich Freunde finden soll, ob ich irgendwann mit einer Frau schlafe.“
Eine Erzählung wie ein Spinnennetz
Auf rund 40 Buchseiten breitet sich daraufhin seine Erzählung aus – mit anfangs noch vermeintlich unwichtigen Details, wie ein Spinnennetz, das der Autor langsam um den Leser webt. Scharfsinnig und zart erzählt er eine Geschichte, in der man sich traumwandelnd gleich wiederfindet. Doch die Erzählungen in dem Buch sind kein Traum, kein Mythos. Die Autoren haben Respekt vor dem Faktischen, auch wenn sie sich der Stilmittel des literarischen Genres bedienen. Sie richten ihren Blick vor allem auf die Nebenschauplätze und Ränder, denn, so sagt Martín Caparrós: „Wer am Rande der Tanzfläche steht, tanzt mit allen.
Leila Guerriero muss man sich am Rande eines Massengrabs vorstellen; wie sie mit ihren wachsamen dunklen Augen eine kleine Gruppe von Anthropologen beobachtet, die in der Erde nach Knochen graben. Die argentinische Journalistin begleitet in ihrem Stück die kleinteilige und oft gefährliche Arbeit von Menschen, die dafür leben, Kriegsverbrechen aufzuklären. In Argentinien ließ das Militärregime zwischen 1976 und 1983 Tausende Menschen entführen, hinrichten und in geheimen Massengräbern beisetzen. „Was wir hier machen“, erklärt einer der Anthropologen, „verhindert, dass künftige Revisionisten leugnen können, was wirklich passiert ist. Jedes Mal, wenn wir das Skelett eines jungen Menschen mit einem Einschussloch im Genick bergen, wird es für die schwieriger, mit irgendwelchen Ausflüchten zu kommen.“
Die argentinische Tageszeitung „Página/12“, das kolumbianische Monatsmagazin „SoHo“ oder das mexikanische Monatsmagazin „Gatopardo“ sind Bühnen jener literarischen Reportagen, die in Lateinamerika eine lange Tradition haben. Ihre Ursprünge finden sich im 16. Jahrhundert, als europäische Kolonisatoren Süd- und Zentralamerika eroberten und erschlossen. Die sogenannten Crónicas de Indias, Sammlungen historischer Berichte, oft aus der Perspektive der weißen Männer, sollten die „Aneignung Amerikas ideologisch vorbereiten und moralisch legitimieren“, schreiben die Herausgeber.
Von dieser Haltung ist in den gegenwärtigen crónicas nichts zu spüren. Sie sind direkt und gehen dorthin, wo es wehtut. Zur 15-jährigen schwangeren Silvina aus Buenos Aires, die ihr Geld mit Entführungen verdient, bis an die mexikanische Grenze zu den USA, wo in der Wüste die Leichen der verdursteten Hoffnungsuchenden schon nach wenigen Stunden wie Mumien aussehen. „Verdammter Süden“ ist ein bemerkenswertes Buch. Nicht nur, weil in jeder Geschichte eine neue Welt auf uns wartet, sondern vor allem, weil die Autoren zeigen, wie viel Achtung man haben kann. Vor den Lebenden. Wie den Toten.
Marion Bacher volontiert bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) im Fachbereich Multimedia.