Der Literaturexperte Thomas Böhm hat 20 Schriftsteller dazu gebracht, sich Entwürfe für Computerspiele auszudenken. Dabei hat er viel über die beiden Kunstformen gelernt, die in der medialen Wahrnehmung immer noch als so gegensätzlich erscheinen.
fluter.de: Wie würde das Computerspiel aussehen, das Sie am liebsten spielen würden?
Thomas Böhm: Man befindet sich in einem Ego-Shooter und lädt am Anfang ein Porträtfoto von sich hoch. Alle Figuren, die aus dem Hinterhalt überraschend auf einen zustürzen, haben das eigene Gesicht. Das Kämpfen kann alle möglichen Formen annehmen: Man tritt sich als Shooter gegenüber, aber auch als Verführer oder als Lehrmeister. Es wäre ein permanenter Kampf mit sich selbst, so wie es auch das Leben ist.
In einem Projekt haben Sie zwanzig Schriftstellern die gleiche Aufgabe gestellt: „Entwerfen Sie das Computerspiel, das Sie selbst am liebsten spielen würden. Die technologische Umsetzbarkeit spielt keine Rolle.“ Was haben Sie dabei über das Verhältnis von Literatur und Computerspielen gelernt?
Ich habe gelernt, dass die Welt der Computerspiele noch ziemlich begrenzt ist. Viele der Autoren haben Spiele entworfen, die heute technisch nicht machbar sind. Die Computerspiele stehen momentan da, wo der Film in den 20er-Jahren stand: schwarz-weißer Stummfilm vor der Erfindung des Tons.
Was ist noch nicht in Computerspielen möglich?
Wenn ich in einer Welt eine Figur anspreche, kann die nur machen, was in ihr programmiert ist. Interessanter wäre, wenn sie auch situativ frei interagieren könnte. Auf der anderen Seite habe ich erlebt, was für famose Denkfiguren sich in Computerspielen abbilden können: fantastische, philosophische, physikalische und sehr literarische oder auch satirische Geschichten.
Zum Beispiel?
Der Autor Wladimir Kaminer hat eine Adaption von Dostojewskis berühmten Roman „Schuld und Sühne“ entworfen. Bei Dostojewski erschlägt der Student Raskolnikow zwei Frauen und wird als Mörder gehetzt. Im Spielentwurf muss man zwei alte Omas mit dem Beil erschlagen. Wie bei Dostojewski geschieht das aus der Überzeugung heraus, dass einem für die Weltveränderung die alten Leute im Weg stehen. Bei Kaminer muss man sich durch Deutschland hindurchkämpfen, bis hin zu Angela Merkel, der Superoma, die Feuer speien kann und die junge Seele Deutschlands gefangen hält.
Hat Sie das nicht schockiert?
Nein. Wenn man in der Literatur zu Hause ist, überrascht oder schockiert einen nichts.
Sie haben bei dem Projekt viel über das Verhältnis von Computerspielen und Literatur gelernt. Was haben die beiden Kunstformen gemeinsam?
Beide Formen entführen uns mit Geschichten in fiktive Welten und geben uns die Möglichkeit, von da aus auf die Realität zu schauen.
Und was unterscheidet sie voneinander?
Eine abgedruckte Geschichte wird sich nicht mehr ändern. In Computerspielen kann ich den Verlauf der Geschichte in gewissen Schranken beeinflussen. Ein anderer Unterschied ist das Verhältnis zu den Figuren. Bei Computerspielen lautet die Frage oft: Was kann eine Figur, welche Grenzen sind ihr gesetzt? Bei der Literatur lautet sie klassischerweise: Was will eine Figur? Und wie führt das zum Konflikt mit anderen Figuren?
Gibt es Geschichten, die sich besser für Literatur eignen? Oder besser für Computerspiele?
Für psychologische Zusammenhänge und Innenperspektiven ist Literatur wahrscheinlich das geeignetere Medium. Wenn ich im Computerspiel die Perspektive einer Figur einnehme, hat die keine Psyche, sondern es bleibt meine eigene Psyche als Spieler. Auf der anderen Seite sind Computerspiele oft interessanter, wenn es um fantastische Welten und um Rätsel geht. Prinzipiell würde ich aber sagen, dass es in der Literatur und auch in Computerspielen möglich ist, wirklich alles zu erzählen. Die Frage ist, wie kunstvoll das geschieht.
Würden Sie sagen, dass die Storys in Computerspielen tendenziell brutaler sind? Das ist ein gängiges Vorurteil ...
Um Gottes willen, nein! Die Literatur ist ein Schlachtfeld der grauenhaftesten Exzesse. Schauen Sie sich die griechischen Tragödien an, im Drama „König Ödipus“ gibt es Blendung, wahrscheinlich durch Augenausstechen, und auch Inzest. Dass wir in allen anderen Künsten grausame Darstellungen haben, hat die Literatur vorgebildet.
Andere Vorurteile gegen Computerspiele lauten: Sie machen dumm, unsozial und unkreativ. Machen Computerspiele dumm?
Grundsätzlich kann alles dumm oder schlau machen. Tatsächlich sind 95 Prozent der Computerspiele uninteressant, uninspiriert und Trash. Das Gleiche gilt aber auch für Bücher, und zwar auch für Bücher auf den Bestsellerlisten.
Was macht für Sie ein gutes Computerspiel und ein gutes Buch aus?
Gute Bücher und gute Computerspiele ermöglichen Denkprozesse über den Moment der Kunsterfahrung hinaus, so dass ich in unterschiedlichen Phasen meines Lebens immer wieder daran zurückdenken muss. Sie führen mich in Welten und zu Gedanken, die mir unbekannt sind.