Hat man in Krisensituationen nicht Wichtigeres zu tun, als sich um sein Aussehen zu kümmern? Wenn die eigene Existenz bedroht ist, wer kann da noch über schöne Kleider und Lippenstift nachdenken?
23 Frauen hat die Journalistin und Dokumentarfilmerin Henriette Schroeder für ihr Buch „Ein Hauch von Lippenstift für die Würde“ befragt. Sie haben in Diktaturen gelebt, waren in Krisengebieten im Einsatz, haben Kriege und Straflager überstanden. In Interviews, Porträts und selbst verfassten Beiträgen wird erzählt, wie für sie das Festhalten an Schönheitsritualen in Zeiten größter Not zu einer Überlebensstrategie geworden ist.
So etwa die Tschetschenin Zara Murtazalieva, die mit 20 Jahren in ein russisches Arbeitslager gesteckt wird. Dort müssen die Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und leben: In einer Baracke schlafen an die 170 Frauen, es gibt nur fünf Toiletten und kein heißes Wasser. Mit einer täglichen Routine gibt sich Zara in dieser Umgebung Halt: aufstehen, das Bett machen, sich waschen, Make-up auftragen. An einem Ort, an dem sie nicht mehr ist als die Nummer, die auf ihre graue Häftlingsuniform genäht ist, helfen Zara der Mascara und eine schöne Frisur dabei, in der Masse der Häftlinge ihre Individualität zu wahren. Zeit und Fantasie auf ihr Äußeres zu verwenden gab ihr das Gefühl, trotz allem die Situation noch ein wenig unter Kontrolle zu haben.
Zuckerwasser als Haarfestiger
Um das zu erreichen, entwickeln manche Frauen einen erstaunlichen Einfallsreichtum: Die in der DDR inhaftierte Moderatorin Edda Schönherz erinnert sich, wie sie und ihre Mitinsassinnen ihre Haare mit Kaffee gewaschen haben, weil es kein heißes Wasser gab. Butter wurde für die Gesichtspflege verwendet, und aus Schuhcreme improvisierten die Frauen Wimperntusche. Es gibt eine ganze Liste solcher Beispiele: Sowjetische Soldatinnen etwa, die einen Teil ihrer Zuckerration zu Zuckerwasser machen und dieses als Haarfestiger nutzen, oder polnische Gefangene, die sich aus Münzen, Holzstückchen und Wolle „patriotischen Schmuck“ basteln.
Im Verhalten dieser Frauen sieht die Psychologin Elisabeth Jupiter, die im Buch in einem Interview zu Wort kommt, auch den Wunsch nach Normalität. Schönheitsrituale, die im Leben vor der Gefangenschaft, vor dem Krieg normal waren, lassen hoffen, dass es wieder normal werden könnte. Gleichzeitig bietet die Schminke auch Schutz vor den Blicken der feindlichen Umwelt. Das Make-up wird zur Maske, die Zeichen von Angst, wie etwa Blässe, vor anderen verbirgt.
Im sozialistischen Rumänien geriet die spätere Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ins Visier des Geheimdienstes, weil sie sich weigerte, für diesen zu arbeiten. Regelmäßig musste sie zu Verhören gehen, für die sie sich immer gut kleidete und schminkte: „Dem Geheimdienstler wollte ich damit sagen, du hast mich noch nicht fertig gemacht. Ich lass mich nicht unterkriegen. Mit Worten konnte man das ja nicht tun. Das tat dann die Kleidung.“
Das Kopftuch als Protest
Sich nicht regelkonform zu kleiden kann gar zu einem mutigen Akt des Protests werden. Wie bei der Algerierin Yasmina Taya, die nie ein Kopftuch trug, selbst dann nicht, als während des Bürgerkriegs unverschleierte Frauen immer häufiger Opfer von Gewalt wurden. Taya musste in dieser Zeit Beschimpfungen – auch von Frauen – über sich ergehen lassen, wenn sie sich außerhalb ihrer Wohnung westlich gekleidet und mit offenen Haaren zeigte. Klein beigegeben hat sie nicht.
Mit ihrem Thema ist Schroeder häufig auf Unverständnis gestoßen. Wenn sie etwa Freunden die Geschichte einer Französin erzählte, die im nationalsozialistischen KZ ihre wöchentliche Margarineration als Antifaltencreme verwendete, fanden die meisten dieses Verhalten unangebracht.
Dabei wird unterschätzt, welch enormen Effekt ein gepflegtes Äußeres auf die innere Verfassung haben kann. Es ist kein Zufall, dass der Lippenstift-Verkauf in Krisenzeiten steigt: Rote Lippen signalisieren Sinnlichkeit, und Sinnlichkeit bedeutet Leben. Das Auftragen von Lippenstift wird zu einer kämpferischen Geste – gegen die Misere, gegen Resignation, gegen den Tod.