Dort, wo heute das Smartphone steckt, trugen junge Menschen in den 60er-Jahren einen Philosophie-Band. In der Hochzeit der Studentenbewegung war alle Theorie auf einmal gar nicht mehr so grau, im Gegenteil, Werke von Adorno und Co. verkauften sich mehr als hunderttausend Mal. Was fesselte so an der Beschäftigung mit politischer und gesellschaftlicher Theorie? Der Wissenschaftshistoriker Philipp Felsch hat sich der Faszination in seinem Sachbuch „Der lange Sommer der Theorie“ genähert.

fluter.de: Herr Felsch, Sie haben ein Buch geschrieben, das auf zugängliche Weise von einer komplizierten Geschichte erzählt: Wie und warum die Generation der 68er anfing, sich mit Theorie zu befassen.

Philipp Felsch: Genau das hat mich gereizt. Theorie ist eigentlich etwas Unerzählbares, Abstraktes. Sie ist aber auch ein historisches Ereignis, und davon will mein Buch erzählen.

Der Untertitel lautet: „Geschichte einer Revolte“. Wogegen revoltieren die Theoretiker und ihre Leser?

Im Grunde erzählt das Buch die Geschichte von 1968 und der linken Studentenbewegung aus einer ganz bestimmten Perspektive: als Geschichte im Innenraum der Texte. Damit entspricht es der Erkenntnis, die diese Generation selbst irgendwann gewonnen hat, nämlich dass die Welt aus nichts als Text besteht. Der Geist der Revolte befeuert ihre Lektüren – es geht immer um Gesellschaftskritik, um Gesellschaftsveränderung, um Utopien und die Unzufriedenheit mit dem, was ist. Anhand der Erfahrung eines Kollektivs, des Merve-Verlags, und einiger Leser versuche ich nachzuvollziehen, wie sich dieser Geist der Revolte später in ein Textuniversum zurückzieht.

Erst wurde gelesen, um besser Revolution machen zu können. Dann wurde nur noch gelesen?

Die französischen Theoretiker, deren deutsche Übersetzungen unter anderem bei Merve erscheinen, stellen die Legitimation dafür aus, dass man schon als Leser subversiv sein kann. Subversion ist ja eine Idee von Revolte im Stillen, im Geheimen. Man könnte also sagen, dass aus dem Geist der Revolution von 1968 der Geist des subversiven Lesens, der Revolte im Text entsteht.

Heidi Paris und Peter Gente und ihr Merve-Verlag stehen in Ihrem Buch beispielhaft für eine linke Auseinandersetzung mit Theorie. Warum wählten Sie gerade die Merve-Verleger?

Am Beispiel von Peter Gente kann man den Bildungsroman der 68er wunderbar erzählen. Er hat alle generationstypischen Lektüreerlebnisse mitgemacht. Er war weder Autor noch Aktivist, obwohl er von der Kommune 1 bis zu Rudi Dutschke und Andreas Baader alle kannte.

Peter Gente war ein Leser.

Er war ein Leser, der brillant darin war, Literatur ausfindig zu machen. Er hat sich schnell einen Namen erworben als jemand, der Texte kennt, an die man nicht so leicht herankommt. Henning Ritter hat geschrieben, dass die 68er ihren wegen des Nationalsozialismus kompromittierten Vätern das Wort entzogen haben. Aber nicht, um es selbst zu ergreifen, sondern um es den Großvätern zurückzugeben, also der Generation der aus Deutschland Exilierten. Dafür ist Gente sehr typisch, der nicht selber spricht, aber die große Fähigkeit zur Lektüre besitzt.

Ein Schlüsselerlebnis war für Peter Gente die Entdeckung von Theodor W. Adornos „Minima Moralia“. Sie schreiben, dass mit diesem Buch der Siegeszug der Theorie begann.

Für manche hat diese Leseerfahrung mit Walter Benjamins „Illuminationen“ angefangen. Für manche, etwa Peter Gente, und das ist schon sehr typisch, sind die „Minima Moralia“ die Einstiegsdroge gewesen. Gente stürzt sich in dieses Buch, das zur Blaupause für das ganze Theoriegenre wird. Es ist ein Buch, das einem existenziellen Gefühl persönlicher Betroffenheit sehr entgegenkommt. Es schmuggelt aber auch knallharte Gesellschaftstheorie, die vom Marxismus herkommt, etwa Fragen von Gebrauchswert und Tauschwert, in den Diskurs. Die Adorno’sche Theorie versteht sich als Kritik. Und Theorie betreiben heißt immer auch zu fragen: Wer spricht? Was ist ein Professor? Was ist die Universität für eine Institution? Das intensivieren die Franzosen dann noch einmal.

Die „Minima Moralia“ sind als Taschenbuch erschienen. Philosophische Werke wurden damals aber noch in schwergewichtigen Hardcover-Ausgaben präsentiert. Und es gab die große Angst, dass Paperbacks Kultur zur schnöden Ware degradieren würden.

„Minima Moralia“ war ein Paperback-Bestseller. Theorie hieß eben auch, dass ein schwieriger Text wie der von Adorno innerhalb von zwei Jahren von hunderttausend Lesern gekauft wurde.

Auch die späteren Bücher von Merve waren klein und billig, sie kosteten um die acht Mark.

Der Merve-Verlag wollte das Medium Buch revolutionieren. Indem man dem Buch seinen Tauschwert nimmt, wollte man ihm seinen Gebrauchswert zurückgeben. Deswegen sind die Merve-Bücher so hässlich, deswegen fallen sie schnell auseinander. Die Leser hatten auch nicht so viel Geld, aber das deckte sich wunderbar mit den politischen Ideen.

Diese Bücher sind nicht fürs Bücherregal, sondern für die Jackentasche gemacht. Wo heute das Smartphone sitzt, transportierte man in den späten 60er-Jahren ein Taschenbuch.

Peter Gente erzählt, wie er die „Minima Moralia“ fünf Jahre lang mit sich herumgetragen hat. Sie waren das erste ambulatorische Buch. Man kann immer wieder hineinlesen. Man muss es nicht linear von vorn nach hinten lesen. All das sind Merkmale von Theorierezeption. Als sich Gente später in den Ruhestand nach Thailand zurückzog, hat er nicht viele Bücher mitgenommen, aber die „Minima Moralia“ waren dabei.

Eines der zentralen Bücher, die bei Merve erschienen sind, ist Jean-François Lyotards „Das Patchwork der Minderheiten“. Der Blick auf Minderheiten ist heute selbstverständlich, war damals aber etwas ganz Neues.

„Patchwork der Minderheiten“ ist einer der Texte, an dem der Übergang von einer marxistischen Politik der Theorie-Avantgarde zu einem neuen politischen Selbstverständnis deutlich wird. Das drückt sich bei Lyotard im Begriff der Minoritäten, der Minderheiten aus. Die Theorieleser verstehen sich seit den 60er-Jahren immer als Avantgarde. Es sind kleine, elitäre Zirkel, die diese schwierigen Texte lesen. Aber sie tun das im Selbstverständnis, einer gesellschaftlichen Bewegung voraus zu sein. Sie haben die utopische Idee, dass irgendwann alle diese Texte verstehen können oder sie gar nicht mehr nötig sein werden, weil sich die Gesellschaft zum Besseren hin verändert haben wird. Avantgarde setzt aber die Idee der Repräsentation voraus.

Mit Repräsentation wollten die Linken aber nun nichts mehr zu tun haben?

Repräsentation heißt, im Namen von jemand anders zu sprechen. Das aber ist das rote Tuch für alle französischen Theoretiker in den 70er-Jahren. Die Franzosen sind nach dem Zweiten Weltkrieg die besten Marxisten gewesen. Fast alle Intellektuellen waren in der Kommunistischen Partei. Nach den großen Schockerlebnissen, als Solschenizyn über den sowjetischen Gulag, das Lagersystem, berichtete und Chruschtschow die Verbrechen Stalins öffentlich machte, traten sie aus.

Die Intellektuellen mussten sich jetzt selbst in Frage stellen, weil im Namen des Fortschritts und der Befreiung so große Verbrechen begangen wurden.

Das war das Symptom einer enttäuschten Liebe. Einer der Begriffe, auf den die Kritiker den Marxismus in den Siebzigern herunterbrechen, ist der Begriff der Repräsentation. Sie verstehen es jetzt als Anmaßung, im Namen der Arbeiterklasse oder der Menschheit zu sprechen. Vorher waren sich alle einig gewesen: Die Intellektuellen sind die Avantgarde der Kommunistischen Partei. Die Partei ist die Avantgarde des Proletariats. Das Proletariat ist die Avantgarde der Menschheit.

Und das entspricht den Stufen der Repräsentation, der Stellvertretung?

Vielleicht ist Pyramide ein besseres Wort dafür. Diese Pyramide wird auf einmal als Kern des Problems von politischer Macht, von Totalitarismus verstanden: Diese Pyramide wird als hierarchische, als Macht-Pyramide entlarvt. Die Kritik der Repräsentation, ein furchtbar sperriger Begriff, wird zum Zentrum der Theoriebildung. Die Minderheiten, auf die sich nun etwa Lyotard beruft, repräsentieren nichts. Minderheiten sprechen allenfalls für sich selber. Bei Gilles Deleuze sind es nicht nur die Schizophrenen, die als Minderheit erscheinen, sondern auch die Junkies. Der Junkie will nichts, außer seinen nächsten Schuss zu organisieren. Darüber hinaus verfolgt er keine Ziele. Zu den Minderheiten gehören auch Arbeitslose oder Nichtwähler.

Man könnte also sagen, das Entscheidende an den Minderheiten ist, dass sie am Rand stehen, sich der Gesellschaft, der Macht, dem Diskurs entziehen.

Diedrich Diederichsen hat diese Idee der 70er-Jahre einmal schön auf den Begriff gebracht. Wir ziehen uns aus dem Feld der Politik zurück, weil das „denen ihr Spiel“ ist. Und solange wir es mitspielen, sind wir gezwungen, nach einem Reglement zu spielen, das wir nicht festgelegt haben. Deswegen verweigern wir das komplett. Man entzog sich dem Modell des Klassenkampfes. Das ist die große Geschichte der Linken in den 70er-Jahren, mit allen Kosten, Folgen und Nebenwirkungen, die das mit sich bringt. Etwa der Entpolitisierung.

Warum führt deren Abkehr vom Klassenkampf und die Beschäftigung mit den Minderheiten zur Entpolitisierung?

Der Tunix-Kongress, auf dem sich 1978 in Westberlin die Minderheiten der Alternativkultur versammelten, war ein Marktplatz von bunten Aussteigerfantasien – von der Landkommune über die Pilz-Trip-Therapie bis zum selbst gefangenen Fisch an den Stränden der Algarve. Sich aus der Arena der offiziellen Politik zurückzuziehen, um eine fundamentalere Form von Verweigerung zu praktizieren, bedeutet eben auch Spinnertum, Privatismus und Nabelschau.

Ihr Buch läuft am Ende auf eine Theorie des Kneipengesprächs zu.

Es wäre übertrieben zu sagen, dass das Buch darauf hinausläuft.

Aber es endet mit einer schönen Pointe: Sie erklären den Unterschied der Kommunikationstheorien von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas damit, was die beiden über das Kneipengespräch denken.

Beide stellen die Kommunikation, das Miteinanderreden ins Zentrum ihrer großen Theorien. Dabei kommt das Kneipengespräch aber völlig unterschiedlich weg: Für Habermas ist das Kneipengespräch eine Verfallsform der Kommunikation, weil es nicht darauf abzielt, einen Konsens über ein Problem herzustellen. Sondern es geht nur darum, dass immer weitergeredet wird. Mit Luhmann kann man wunderbar begründen, warum das Kneipengespräch eine geradezu paradigmatische Form von Kommunikation ist: Die Kneipe ist ein Labor, weil die Einstiegsschwelle so niedrig ist, überhaupt miteinander ins Gespräch zu kommen.

Waren die Theorie und das Nachtleben nicht immer schon eng miteinander verknüpft?

In den späten 70er-Jahren ist die Linke ernüchtert. Keiner glaubt mehr an das große Projekt der Revolution. Eine Folge ist, dass manche den Gestus der Theorie generell verabschieden: etwa die Grünen und die Friedensbewegung. Es gibt aber auch diejenigen, die weitermachen, so wie die Helden des Buches, die Verleger von Merve, Heidi Paris und Peter Gente. Sie interessieren sich nun auch für reaktionäre Denker und die Kunst – aber auch für die Kneipe und den Hedonismus. Die Kneipe wird zum Gegenstand der Theorie. An dieser Stelle gerate ich immer wieder mit Zeitzeugen aneinander, die sagen: Ich war 1968 ständig in der Kneipe, wir haben gesoffen und Drogen genommen. Die Kneipe hatte für die 68er aber kein theoretisches Gewicht, man redete nicht über sie. Das Nachtleben ist kein Ort der Produktion. Das ändert sich erst später.

Philipp Felsch wurde 1972 in Göttingen geboren. Er studierte Geschichte und Philosophie in Freiburg, Köln, Bologna und Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte der Kartografie im 19. Jahrhundert und die Geschichte der Theorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit 2011 ist er Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften am Institut für Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit „Der lange Sommer der Theorie“ war er im Bereich Sachbuch/Essayistik für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.