Wohin, wenn man sich selbst neu finden will? Und wenn die Zwänge der kapitalistischen Industriegesellschaft erdrückend sind? Raus ins Grüne, dachte sich Mitte des 19. Jahrhunderts der US-Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau und schuf mit seinem Erlebnisbericht „Walden oder Leben in den Wäldern“ einen bis heute wirkmächtigen Klassiker der Öko- und Aussteigerliteratur. Ein Werk, das die Natur als einen Ort feiert, an dem der Mensch bei sich selbst sein kann. Unbeschwert und glücklich.
Ein gänzlich anderes Bild der Wildnis etablierte sich ab den 1970er-Jahren im amerikanischen Unterhaltungskino. Zu einer Zeit, als die Nation von traumatischen Krisen – etwa dem Desaster des Vietnamkrieges – erschüttert wurde. Im sogenannten Backwood-Horrorfilm erwies sich der Weg in die Natur nicht mehr als berauschend, sondern als lebensgefährlich. Das Erzählmuster ist dabei oft ähnlich: Unbedarfte und hochmütige Protagonisten treffen in entlegenen Landstrichen – Wäldern, aber auch Wüsten und anderen unwirtlichen Regionen – auf brutale Einheimische und lassen auf blutige Weise ihr Leben.
Nicht gut, wenn einer mit der Kettensäge kommt
Besonders beachtenswert ist rückblickend Tobe Hoopers Terrorstreifen „The Texas Chainsaw Massacre“ (1974). Fünf junge Menschen geraten darin in die Fänge einer inzestuösen Hinterwäldler-Familie, deren Vollstrecker „Leatherface“ die Opfer mit einer Kettensäge malträtiert. Auch wenn Hoopers Film häufig als Geburtsstunde des Backwood-Horrors gefeiert wird, lässt sich Alfred Hitchcocks Meisterwerk „Psycho“ (1960) als ein Vorläufer des Subgenres ansehen. Nicht nur, weil dessen Protagonistin in einem einsam gelegenen Motel mit einer großen, scharfkantigen Waffe – einem Messer – ermordet wird. Sondern auch, weil Hitchcock die für den Backwood-Film charakteristischen Elemente der Identitäts- und Sexualstörung prominent in seine Geschichte einbettet.
Ein Wegbereiter des Hinterwäldler-Kinos war auch John Boormans Romanverfilmung „Beim Sterben ist jeder der Erste“ (1972). Eine Abenteuergeschichte mit Thriller-Anleihen, in der Zivilisation und Wildnis, ähnlich wie im Western, gewaltsam aufeinanderprallen: Vier Städter wollen für kurze Zeit aus ihrem Alltagstrott ausbrechen und sich bei einer Kanutour als echte Kerle beweisen, unterschätzen dabei aber die Natur und ihre Bewohner. Im Hinterland sind die Normen und Gesetze der Gesellschaft außer Kraft gesetzt. Stattdessen dominiert eine archaische Gewalt, die in Gestalt von zwei sadistischen Einheimischen über die Gruppe hereinbricht. Nach einer Vergewaltigung müssen die Protagonisten, besonders der sanftmütige Ed, ihre wilden Triebe freilegen. Denn nur so können sie letztlich überleben.
Das blutige Treiben lässt sich auch als Rache der vom Kapitalismus abgehängten Menschen lesen.
Noch drastischer inszeniert „The Texas Chainsaw Massacre“ die Konfrontation mit den ungezügelten ruralen Kräften, wobei der Film durch schnelle Schnitte und eine hysterische Klangkulisse Gewaltakte suggeriert, die im Bild überhaupt nicht auftauchen. Interessant sind vor allem die politischen Untertöne, die Hooper in seinen Terrorfilm einfließen lässt. So erfahren wir, dass die Mitglieder der Sippe früher im örtlichen Schlachthof gearbeitet, ihre Anstellung aber durch Rationalisierungsmaßnahmen verloren haben. Das blutige Treiben lässt sich folglich auch als Rache der vom Kapitalismus abgehängten Menschen lesen.
Die Paranoia der Mehrheitsgesellschaft
Spannende Anspielungen tauchen ebenso in Wes Cravens Wüsten-Alptraum „Hügel der blutigen Augen“ (1977) auf. Hier muss sich eine amerikanische Durchschnittsfamilie eines Kannibalenclans erwehren. Der wurde von einem Kind gegründet, das wahrscheinlich bei Atomtests, die in der Gegend von der Air Force durchgeführt wurden, zahlreiche Missbildungen erlitten hat. Der Clan kann symbolisch für die Angst der Mehrheitsgesellschaft vor benachteiligten Minderheiten stehen. Kritik am Überlegenheitsdenken im Allgemeinen und am Vietnamkrieg im Besonderen übt der Actionthriller „Die letzten Amerikaner“ (1981), in dem es bei einer Reserveübung der Nationalgarde zu einem tödlichen Missverständnis zwischen Soldaten und den in den Louisiana-Sümpfen lebenden Cajuns kommt.
Leider bringt das seit den 1970er-Jahren unaufhörlich gedeihende Subgenre immer wieder Beiträge hervor, die lediglich bestehende Muster kopieren und sich nicht um politische Zwischentöne scheren. Ein Beispiel ist die bislang sechsteilige Filmreihe „Wrong Turn“, die den Backwood-Gedanken eher uninspiriert ausschlachtet. Streifen wie diese haben eine Abnutzung vorangetrieben, die bereits in parodistischen Einlagen aufgegriffen wurde. Etwa in Drew Goddards Meta-Horror-Überraschung „The Cabin in the Woods“ (2012) oder im clever-unterhaltsamen „Tucker & Dale vs. Evil“ (2010), wo zwei harmlose Hinterwäldler mit vorurteilsbeladenen Stadtmenschen zusammenstoßen.
Dass trotz ausgelutschter Erzählmuster neue Impulse möglich sind, beweist Debra Graniks Romanadaption „Winter’s Bone“ (2010), die ein Backwood-Setting raffiniert mit Western-, Drama- und Noir-Elementen kombiniert. In die Wildnis, so muss man die anhaltende Popularität des Genres wohl verstehen, kann man ziemlich viele Ängste projizieren.
Christopher Diekhaus arbeitet als freier Autor in Köln und hat schon zahlreiche Backwood-Thriller verschlungen, schnuppert aber trotzdem gerne Landluft.