Spike Lee macht wieder ernst. Es wurde auch Zeit. Auf „Bamboozled“ (2000), seiner bösen Farce über den Rassismus in der US-amerikanischen Unterhaltungsbranche, hat er keinen Film mehr folgen lassen, der es mit der Schärfe seiner öffentlichen Auftritte aufnehmen konnte. Und davon hatte er zuletzt ja einige in der #OscarSoWhite-Debatte. Jetzt also „Chi-Raq“. Schon der Titel, zusammengesetzt aus den Worten „Chicago“ und „Irak“, brachte den Bürgermeister der Millionenmetropole auf die Palme. Lee diskreditiere Chicago als Herd der Gewalt, kritisierte der. Dabei stammte der Titel nicht einmal von Lee.
Ein Sexstreik gegen die Gewaltspirale auf den Straßen
Im Hip-Hop ist die Bezeichnung Chiraq längst ein geflügeltes Wort, ebenso wie der Name Killadelphia für die murder capital an der Ostküste. Sie erinnern daran, dass auf amerikanischen Straßen heute mehr Jugendliche, und insbesondere junge Afroamerikaner, an Schussverletzungen sterben als während der US-Militäreinsätze in Afghanistan und dem Irak. Darum ist die Eröffnungssequenz von „Chi-Raq“ wie eine Todesanzeige in schlichtem Schwarz gehalten. Darüber läuft ein Hip-Hop-Stück, halb Klagelied, halb Moritat. Vor dem schwarzen Hintergrund leuchten in roter Schrift Textzeilen auf: „Just released from jail and try to stay out“ oder „Too much hate in my city but I got faith in my city“.
Dem Titelstück sind noch einige Statistiken angehängt, denen der Film seinen Titel – und Chicago seinen Spitznamen – verdankt, während aus dem Off eine männliche Stimme (Pastor Michael Pfleger von der St. Sabina-Gemeinde in der berüchtigten South Side von Chicago) die skandalöse Realität verkündet: Jeden Tag töten junge Schwarze auf amerikanischen Straßen andere junge Schwarze. Wie kann die Gewaltspirale in den afroamerikanischen Communities, mit der die Jugendlichen aufwachsen, gestoppt werden? Spike Lee hat die Antwort in der antiken Literatur gefunden, in der griechischen Komödie „Lysistrata“ von Aristophanes aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Das revolutionäre Stück handelt vom Aufstand einer Gruppe Frauen, die während des Peloponnesischen Krieges die Akropolis besetzen und öffentlich ihre „ehelichen Pflichten“ verweigern, bis die Männer von Athen und Sparta einen Waffenstillstand ausgehandelt haben.
In „Chi-Raq“ klingt die Forderung noch etwas expliziter: „No Peace, no Pussy“ proklamieren die jungen Afroamerikanerinnen unter Anführung von Lysistrata (Teyonah Parris, bekannt aus „Mad Men“), die mit Hot Pants und Riesenafro die Nachfolge von Blaxploitation-Heldin Foxy Brown antritt. Lysistratas Boyfriend ist der Gangsterrapper Chiraq (Nick Cannon), für den Sex und Gewalt eine Frage des Images als harter Homeboy sind. Der „Sexstreik“ seines Mädchens trifft ihn an seiner empfindlichsten Stelle. Und nicht nur ihn. Die halbe männliche Bevölkerung von Chicago leidet zunehmend unter einem Hormonstau, als die Protestbewegung von Lysistrata und ihren Freundinnen Fahrt aufzunehmen beginnt. Bald marschieren Frauen von Sao Paulo bis Tokio in den Straßen und skandieren „No Peace, no Pussy“.
Filmfans mit eingeschliffenen Sehgewohnheiten könnten die krude Mischung aus Popkulturzitaten, amerikanischer Geschichte und Gesellschaftskritik als ästhetische Zumutung empfinden, aber wie schon in „Bamboozled“ erzeugt das stilistische Potpourri einen fast schon musikalischen Stakkato-Rhythmus. An „Chi-Raq“ ist weder die Form noch die Botschaft gefällig. Ausgerechnet John Cusack, dem einzigen weißen Darsteller in einem afroamerikanischen Ensemble, legt Lee in der Rolle des Michael Pfleger nachempfundenen Priesters eine Brandrede in den Mund, die eher nach Flugblatt als nach Leitartikel klingt. In seiner achtminütigen Predigt auf einer Totenfeier, dem Herzstück des Films, bezeichnet Cusack unter anderem die US-Justiz mit ihrer Gefängnisindustrie als eine moderne Variante der amerikanischen Rassentrennungsgesetze.
Mit dieser politischen Linie ist „Chi-Raq“ absolut kompromisslos, viele Dialoge im Film erinnern – ähnlich dem Martin-Luther-King-Biopic „Selma“ – an Diskussionsbeiträge zur aktuellen Situation in den USA. Vorgetragen allerdings in einem klassisch anmutenden Versmaß, das dem Rassismus-Diskurs einen theatralischen Flow verleiht.
Was her muss, ist ein neuer Gesellschaftsvertrag
So aberwitzig die Umsetzung in der Theorie auch klingt (der Auftritt von Wesley Snipes als Chiraqs einäugiger Widersacher Cyclops ist wirklich grenzdebil), so konsequent erweist sich das Genre-Crossover, das Stilmittel afroamerikanischer Musik (die Sample-Technik des Hip-Hop, das Call-and-Response des Gospel) mit Bertolt Brechts Idee eines volkstümlichen und gleichzeitig experimentiellen Theaters verbindet. Samuel L. Jacksons Dolmedes, eine Mischung aus griechischem Ein-Mann-Chor und afroamerikanischer Trickster-Figur, ist in „Chi-Raq“ der Dreh- und Angelpunkt. Seine Kommentare sind für sich genommen kleine böse Varieténummern, aus ihm spricht aber auch der Regisseur selbst – und das direkt in die Kamera. Weiße Rassisten (ein weißhaariger General darf in Stars-and-Stripes-Unterhose eine Kanone reiten) bekommen ebenso ihr Fett weg wie die Polizei und der archaische Männlichkeitskult unter afroamerikanischen Jugendlichen.
„Chi-Raq“ plädiert für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Denn die Zukunft eines kulturell zunehmend vielfältigen Amerikas liegt in den Händen der schwarzen Gemeinden und ihrer Solidarität. Es ist das versöhnliche Fazit eines unversöhnlichen Films.
„Chi-Raq“, USA 2015; Regie: Spike Lee, Drehbuch: Spike Lee, Kevin Willmott, mit Tayonah Parris, Angela Bassett, Nick Cannon, Samuel L. Jackson, John Cusack, 127 Minuten