New York, Bali, Djerba, London - westliche Ziele oder Touristen sind häufiges Ziel islamistisch motivierter Terroranschläge. Warum eigentlich? Ian Buruma, Historiker und Kulturanalytiker, hat ein paar Antworten. 

Herr Buruma, islamische Terroristen rechtfertigen Anschläge gegen westliche Ziele auch damit, dass der Westen unmoralisch und verkommen sei. Was werfen sie dem Westen konkret vor? 

Für die Terroristen ist der Westen ein Hort der Sünde, gottlos, seelenlos, materialistisch, sexuell zügellos. Warum? Weil wir im Westen nicht ein Leben reinen Glaubens leben. Wir leben deren Ansicht nach für materielle Dinge, wie Maschinen. Wir sind korrupt, wir sind Barbaren. Wir leben, um reich zu werden, um ein angenehmes Leben zu haben. 

Ein angenehmes Leben führen zu wollen ist also ein moralisches Problem? 

Für jemanden, der für den Glauben lebt, für die Unterwerfung unter Allah und für die Anbetung von Allah, ist das ein Problem. Der Hauptvorwurf islamischer Extremisten ist unsere religiöse Ignoranz. Sie nennen das Jahiliyya. Jahiliyyabe zeichnete ursprünglich die Zeit in der arabischen Welt vor der Ankunft des Propheten Mohammed, als die Menschen noch verschiedene Götter und Götzen anbeteten. Sie lebten in Unwissenheit, weil der Prophet noch nicht geboren war. Heute wird es noch schärfer gebraucht, denn es gibt ja keine Entschuldigung für Ignoranz mehr, der Prophet wurde ja schon vor Jahrhunderten geboren. Menschen die heute nicht nach dem puren Islam leben, sind also nicht nur ignorant, sie sind barbarisch. Wir haben in den Augen der Extremisten keine Seele. 

Wäre es in Ordnung, wir würden strikt nach christlich-religiösen Grundsätzen leben, zum Beispiel nach der katholischen Morallehre? 

Nein. Wir haben es mit einer revolutionären Bewegung zu tun, die ein Ziel hat: reine islamische Staaten, vor allem im Nahen Osten. Es ist also ziemlich irrelevant, ob die Menschen im Westen wieder zu gläubigen Christen werden .Solange die Extremisten nicht ihre rein islamischen Staaten haben, wird die Revolution weitergehen. 

Und wie lange?

Das erste Ziel sind rein islamische Staaten im Nahen Osten. Am Ende vielleicht der Islam auf der ganzen Welt. Aber es ist wichtig, eines zu verstehen: Der Westen ist eigentlich gar nicht das Ziel dieser Moralkritik. 

Sondern? 

Die Vorwürfe der Extremisten richten sich gegen die säkularen Regime des Nahen Ostens. Sie halten den Westen vor allem deshalb für barbarisch, weil der Westen die korrupten säkularen Regime des Nahen Ostens unterstützt, die korrupten Eliten dort. Der Hauptkonflikt spielt sich im Inneren der islamischen Welt ab. Zwischen denen, die den Islam mit mehr oder weniger säkularen demokratischen Institutionen vereinen möchten, und denen, die einfach einen rein islamischen Staat wollen.

Die Anschläge vom 11.September 2001 in New York richteten sich gar nicht gegen den Westen? 

Noch mal: Wir haben es mit einer revolutionären Bewegung zu tun. Wie jede revolutionäre Bewegung braucht auch diese Propaganda, um Anhänger zu gewinnen. Die Anschläge waren Propaganda. Grausam, aber großartig für ihre Zwecke. Es waren symbolische Ziele, wie der Westen symbolisches Ziel und Stellvertreter in einem Kampf ist, der im Inneren des Islam stattfindet. 

Warum ist der Moralvorwurf an den Westen so populär? 

Die meisten Regierungen in arabischen Ländern sind keine islamischen Regierungen, es sind säkulare Regierungen; Monarchien, Polizeistaaten - unterstützt vom Westen. Junge Leute, die sich in diesen Polizeistaaten unterdrückt fühlen, haben keine Möglichkeit, ihre Frustration politisch zum Ausdruck zu bringen. Also suchen sie sich ein anderes Feld zur Rebellion - die Religion. Besonders gut wirkt die Propaganda seit der amerikanischen Invasion des Irak. Denn jetzt sieht es für viele Menschen in der islamischen Welt so aus, als ob der Westen sich im Krieg mit dem Islam befindet. Und das ist genau das, was Al-Qaida will, dass die Menschen glauben. 

Aber gerade die jungen Leute benutzen doch westliche Technologien, bewundern westliche Filmstars. 

Ja, natürlich. Aber es ist eine religiöse Rebellion und diejenigen, die rebellieren, verdammen all das. Zum Teil gespeist aus politischer Unterdrückung, zum Teil aus Frustration: Sie hätten gern mehr von diesen Dingen. Aber es hat etwas von einer Doppelmoral.

In was für einer Gesellschaft wollen die Extremisten leben?

In einer liberalen Demokratie ist die Idee von Gesellschaft: Wir leben in einem Staat zusammen, der Staat besteht aus Individuen, jeder hat Rechte, jeder kann hart arbeiten für sein eigenes Fortkommen, es ist einfach eine Gesellschaft von Individuen. Da gibt es immer Interessenkonflikte, die friedlich ausgefochten und dann geregelt werden, durch politische Debatten zum Beispiel. Die Extremisten haben eine andere Vorstellung von Gesellschaft, die näher an der klassischen deutschen romantischen Idee einer Gemeinschaft ist - Gemeinschaft statt Gesellschaft. Dort gibt es einen gemeinsamen Willen, alle glauben an das Gleiche, es herrscht Harmonie, weil es ja keinen Konflikt gibt, wenn alle an die gleiche Idee glauben, alle sind vereint in der Verehrung eines Gottes oder eines Führers. 

Woher kommt diese Vorstellung?

Es ist ein Phänomen der menschlichen Geschichte, dass man Gemeinschaften hat, Menschen, die an Reinheit glauben, und Menschen, die vermeintlich unrein sind, korrupt, seelenlos. Die Reinheit kann Reinheit des Glaubens sein, Reinheit der Rasse, was auch immer. Das gab es schon bei den Griechen: Die hielten jeden, der außerhalb ihrer griechischen Welt lebte, für einen Barbaren. 

Die Vorstellung ist also nicht exklusiv im Islam angelegt? 

Nein, das ist in keiner Kultur speziell angelegt. 

Wie kann der Westen sein unmoralisches Image verbessern? 

Der Westen sollte sich deutlicher von den säkularen Diktaturen des Nahen Ostens distanzieren und nicht einfach fortfahren, mit ihnen Geschäfte zu machen. Denn genau das hinterlässt im Nahen Osten den Eindruck, der Westen habe eine Doppelmoral: Einerseits reden wir über Demokratie und Freiheit, andererseits machen wir Geschäfte mit Diktatoren. Das Problem ist, dass es da in Wahrheit nicht sehr viel Spielraum gibt für den Westen, weil der Westen zugleich nicht zu sehr in die Politik dieser Länder eingreifen sollte. Das andere: Eine Hauptrekrutierungsquelle des Extremismus ist in den westlichen Ländern selbst zu finden – die schlechte Situation der zweiten und dritten Einwanderergeneration. Da kann vor allem in Europa noch viel getan werden, um zum Beispiel Kindern von Immigranten zu verstehen zu geben, dass sie als vollwertige Bürger angesehen werden, und man ihnen nicht das Gefühl gibt, sie seien Außenseiter. Das würde es weniger wahrscheinlich machen, dass sich diese Leute dem radikalen Islam anschließen. 

Wer wird den Konflikt innerhalb des Islam für sich entscheiden können? 

Auf lange Sicht wohl die Säkularen. Es ist schwer vorstellbar, dass eine Mehrheit der Muslime nach den Standards der reinen Lehre leben möchte. Die Idee einer Gesellschaft, die auf dem reinen Islam basiert, ist eine Utopie. Auf kurze Sicht können die Extremisten aber eine Menge Schaden anrichten. 

Buch: Ian Buruma ,Avishai Margalit :Okzidentalismus .Der Westen in den Augen seiner Feinde. München,2005.