Märchen sind nicht nur eine Einschlafshilfe, wir sollen auch was fürs Leben lernen: die „Moral von der Geschicht’“. Allerdings stammen die Märchen der Gebrüder Grimm und von Hans Christian Andersen aus einer anderen Epoche. Höchste Zeit zu überprüfen, ob die Moral der alten Geschichten heute noch anwendbar ist.
 

Das tapfere Schneiderlein 


Eine typische Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte, Hollywood-Material aus dem 19.Jahrhundert.Beim Frühstück erschlägt ein armer Schneider sieben Mücken und setzt sich selbst mit einem bestickten Gürtel ein Denkmal. „Sieben auf einen Streich“. Ein guter Slogan. Damit zieht er in die Welt. Bald trifft er einen Riesen, der sehr beeindruckt ist, weil er denkt, er habe es mit einem siebenfachen Mörder zu tun. Trotzdem schlägt er einen Wettkampf vor. Den Steineweitwurf gewinnt der körperlich unterlegene Schneider, indem er einen Vogel wirft, der scheinbar gar nicht mehr zu Boden kommt. Kreativität und sein positives Image als unbesiegbarer Kämpfer sind die großen Stärken des Schneiders. Am Ende sitzt er gar auf dem Thron. Wir lernen: Frechheit siegt. Und man bekommt nie eine zweite Chance, um einen guten ersten Eindruck zu machen. Wer es am Anfang des Semesters schafft, den Professor zu beeindrucken, kann sich zurücklehnen: Noch die letzten Banalitäten werden einem als Geistesblitze angerechnet. 
 

Die Bremer Stadtmusikanten 


Was tun, wenn man an seinem Arbeitsplatz nicht mehr gebraucht wird? Die Hauptfiguren der „Bremer Stadtmusikanten“, Esel, Hund, Katze und Hahn sind alt, schwach und können keine Leistung mehr bringen. Ihre Besitzer wollen die treuen Tiere deshalb „schlachten“, „totschlagen“ und „ersäufen“. Die Tiere fliehen gemeinsam nach Bremen um dort Musikanten zu werden. Auf der Reise dorthin entdecken sie ein Haus, das von einer Räuberbande bewohnt wird. Mit einer List verjagen sie die Gangster und besetzen das Haus: Indem sich die Tiere aufeinander stellen, bilden sie einen Furcht erregenden Super-Körper. Die Räuber haben Angst vor dem Zusammenhalt der Tiere und denken, sie hätten es mit Monstern zu tun. Die Lehre lautet also: Solidarität macht stark, allein ist man nicht klein. Die Tiere haben sich nicht mit ihrem Schicksal abgefunden. Und weil sie ihre unterschiedlichen Fähigkeiten für das gemeinsame Wohl einsetzen, erkämpfen sich die Tier-Rentner den Traum aller Arbeitnehmer: ein Häuschen im Grünen.

Die Sterntaler 


Erst sterben die Eltern, dann wird das kleine Mädchen obdachlos und steht mitten im Winter allein auf der Straße. Dort trifft es arme Leute, denen es sein letztes Stück Brot, die Mütze und auch sein letztes Hemd schenkt. „Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter blanke Taler.“ Gesetzt den Fall, die Gebrüder Grimm schildern nicht die Halluzinationen eines erfrierenden Mädchens, ist die Geschichte wunderschön: Wer möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Armut und Kälte von warmen Herzen weggeschmolzen werden – und das noch belohnt wird? Natürlich können sich auch im echten Leben gute Taten lohnen: Man schlägt sich Abende um die Ohren, um einem Freund bei der Abschlussarbeit zu helfen, später verschafft er einem einen guten Job. Wer aber garantiert, dass das so läuft? Dass man nicht an diesen Abenden seine Traumfrau kennen gelernt hätte, wäre man nicht am Schreibtisch gesessen? Und wenn es so wäre: Gleichen das dann auch die Sterne aus?
 

Des Kaisers neue Kleider 


Ein eitler König bekommt eines Tages Besuch von zwei freischaffenden Stilberatern, die ihm ein Wunderwams versprechen. Das Kleidungsstück soll eine magische Fähigkeit besitzen: Für inkompetente Mitarbeiter ist es unsichtbar. Die Modeschöpfer weben gar keinen Stoff, weil aber keine der Hofschranzen als Idiot dastehen will, traut sich niemand, die Wahrheit zu sagen. Nur ein kleines Kind, das die Regeln des Spiels noch nicht kennt, sagt, was alle sehen:„Er hat ja gar nichts an.“ Der König ist blamiert, tut aber so, als habe er nichts gehört, und bleibt so an der Macht. Einen jeden plagen manchmal Zweifel an der gesellschaftlichen Ordnung: Ist Michael Ballack wirklich nicht zu ersetzen? Leben wir in der besten aller Welten? Dann sagt man sich:„Wird schon was dran sein, wenn alle das sagen.“ Aber man sollte solche Zweifel ernst nehmen .Es haben schon ganze Länder an die absurdesten Dinge geglaubt. Ob sich aber etwas ändert, wenn man es an- und ausspricht – das ist eine andere Geschichte. 
 

"Von dem Fischer und syner Frau" 


Im Märchen „Von dem Fischer und syner Fru“ fängt ein armer Fischer eines Tages einen großen Fisch, der ihm als Gegenleistung für seine Freiheit verspricht, alle Wünsche zu erfüllen. Auf Druck seiner Frau wünscht sich der Fischer vom „Buttje in der See“ ein schönes Haus, später ein Schloss. Die Frau aber ist immer noch nicht zufrieden, sie möchte Königin, am Ende gar Gott werden. Im nächsten Moment sitzen die beiden wieder in ihrer alten schäbigen Hütte. Das Märchen kritisiert nicht den Reichtum an sich, sondern die Habgier, die durch diesen erzeugt wird. Wer immer mehr will, verliert irgendwann alles. Die Geschichte vom „Fischer und syner Frau “ ist aber auch die ideale Erzählung für die unterprivilegierte Klasse, um sich ihrer moralischen Überlegenheit zu versichern: Wer reich ist, ist unzufrieden und damit im Grunde genommen arm.