Am Anfang schmeißt man alles weg: den Reiseführer, die Notizen, die Erwartungen. Denn nach einer Stunde in Istanbul ahnt man bereits, dass man diese Stadt nicht in den Griff bekommen kann, dass man ein Fremder bleiben wird, egal, wo man hingeht, egal, mit wem man spricht, egal, wie viel man sieht. Nach drei Tagen in Istanbul weiß man, dass es Schlimmeres gibt.
ERSTER TAG
„Gegen Istanbul ist Los Angeles ein Witz“, sagte einer, der schon mal da war. Er hätte vielleicht auch noch sagen können, dass gegen Istanbul Berlin eine Oase ist, London ein Vergnügungspark und New York ein Sanatorium – aber das alles würde die Stadt auch nicht erklären.Was dann? Dass hier der Okzident auf den Orient trifft? Die Moderne auf die Tradition? Arm auf Reich? Fenerbahce auf Besiktas? Wir sitzen in einem Hotel im Stadtteil Sultanahmet. Bis zur Hagia Sophia und zur Blauen Moschee ist es nicht weit, auf den Straßen laufen die Touristen aus den USA, aus Japan und Europa durch ein Istanbul, das man auch kennt, wenn man noch nie hier war. Es ist nicht das Istanbul, das wir suchen.Aber weil wir das auch niemals finden würden, ist Hasan bei uns. Hasan kennt Istanbul, jeden Stadtteil, jede Straße, jede Ecke. Er arbeitet als Location-Scout, und wenn jemand einen Film in Istanbul dreht oder Modefotos machen will, dann meldet er sich bei Hasan. Für unser erstes Ziel sei ein Taxi das Beste, sagt er. Wir fahren in den Stadtteil Fatih, es ist das religiöse Viertel Istanbuls und heute, am Mittwoch, findet dort neben der Moschee ein großer Basar statt. Der Taxifahrer hat wenig Verständnis dafür, dass wir ausgerechnet nach Fatih wollen. „Da gibt es nichts“, sagt er. In Istanbul müsse man sich die Hagia Sophia oder den Sultanspalast anschauen. Der Fahrer, geboren, aufgewachsen und seit mehr als vierzig Jahren in Istanbul lebend, war noch nie in der Hagia Sophia und noch nie im Sultanspalast.Wir sind auf dem richtigen Weg. Vor der Moschee ist, man kann es nicht anders beschreiben, die Hölle los. Menschen treffen sich, sitzen auf der niedrigen Mauer, reden, rauchen. Hier kommt man zusammen, bespricht die Dinge des Tages.Wir ziehen unsere Schuhe aus und betreten die Moschee, in der ein kleiner Junge umherläuft, er ist vielleicht neun Jahre alt, er trägt eine Jacke und eine Hose in Tarnfarben. Sein Toben stört hier niemanden, diese Moschee ist kein Ort der Ruhe und Andacht, wenige knien Richtung Mekka und beten. Hinter einem kleinen Tor, das vom Platz der Moschee auf eine Straße führt, beginnt der Basar. Hier gibt es alles: Obst, Gemüse, Früchte, Kopftücher, Schuhe.
Ein paar Straßen weiter liegt der „Frauen-Basar“, der bestimmt nicht so heißt, weil dort an einem Mittwoch im August um halb sieben Uhr abends überhaupt keine Frauen zu sehen sind. An den Verkaufsständen hängen tote Tiere, von denen man weder Art noch Rasse bestimmen kann. Die Menschen von Fatih kaufen auf diesen Märkten ihre Waren, die Straßen sind ihr Supermarkt, hier sind sie unter sich. Zu uns sind sie freundlich, aber gerade diese Freundlichkeit zeigt auch, dass wir Eindringlinge sind, Fremde, weit weg von der Hagia Sophia, in einer Welt, in der wir nichts verloren haben. Über die Brücke kommt man von Fatih nach Beyoglu, in die Welt, die wir kennen und verstehen, es ist das andere Istanbul, das, was einen daran erinnert, dass diese Stadt wahrscheinlich tatsächlich etwas mit Europa zu tun hat. Hier sind die Touristen, denn die große Einkaufsstraße erinnert sie an ihre Heimat, hier sind die jungen Istanbulis, denn es erinnert sie an ihre Träume von London, Paris, Berlin: Bars, Restaurants, Cafés neben einem Adidas-Originalstore, Unterwäscheläden, Buchhandlungen. Junge Frauen tragen hier das, was sie für sexy halten, im Sommer 2006 heißt das in Istanbul bauchfrei und Dolce-&Gabbana-Fake. Hasan, unser Führer, bleibt vor einem unscheinbaren Haus stehen. Mit einem Fahrstuhl gelangen wir in den 6. Stock. Dort ist das „360 Istanbul“, eine Bar mit wunderschönem Panoramablick über die ganze Stadt. Es ist bereits dunkel und nicht mehr heiß und dieser Ort könnte jetzt, genau in diesem Moment, der beste und schönste Ort der Stadt sein, aber im Hintergrund läuft Simply Red und der Rest – die Einrichtung, die Kellner, die Gäste – wirkt etwas zu bemüht. Über diese Bar sagt man in Istanbul, dass sie edel sei, aber das sagt man auch über das „P1“ in München, und wenn man dann einmal da ist, ahnt man, dass man sein Leben auch unter Wert führen kann. Die Getränke im „360 Istanbul“ heißen „Drop the Bomb“ und „Hot Pornstar“. Wir bestellen Bier. Dann fahren wir ins „Reina“.
Das „Reina“ ist ein Club, es ist der Club überhaupt in Istanbul, in der Türkei, Politiker, Schauspieler, Models, Sportstars, altes Geld und neues Geld – all das trifft sich in diesem Ort am Bosporus, der ein Restaurant ist und eine Disco und irgendwie auch ein kleiner Hafen mit einem Schiff.Vor der Tür stehen jeden Abend Paparazzi und warten auf ihre Beute, und wenn die Beute sehr groß ist und vom „Reina“ flüchtet, wird sie von den Paparazzi gejagt. Eine Stunde vor dem „Reina“ ist wie Kino, meist wie ein Film ab 18, das liegt vor allem an den Darstellern: knappe Kleider, große Brüste, Gesichter wie bestellt und abgeholt, daneben Männer, die offenbar nicht Auto fahren können, denn die Autos (Porsche, Mercedes, BMW, Bentley etc.) fahren die Frauen. Parken müssen sie nicht, das erledigen die Clubangestellten. Das Treiben vor dem „Reina“ erinnert an ein Theaterstück, die Rollen sind klar verteilt und irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass das Stück am Ende eine Komödie ist. Drinnen spielt der DJ in einer Stunde zweimal Love Generation.
Ein Wächter im Stadtteil Sishane.
ZWEITER TAG
Gibt es ein Geheimnis dafür, dass die Stadt funktioniert? Dass die Menschen, bei all dem Wahnsinn, der Größe, dem Trubel, nicht ausflippen? Donnerstagmorgen, acht Uhr am Taksim-Platz, so etwas wie der Mittelpunkt Istanbuls, wenn so eine Stadt überhaupt einen Mittelpunkt haben kann. Hier fährt die Metro in zwei Richtungen, sie bringt die, die arbeiten, in die Geschäftsviertel, und die, die nicht arbeiten, schließt sie aus. Die Metro ist sauber, kein Müll, keine Graffiti, am Eingang werden die Taschen der Fahrgäste durchleuchtet. Hier ist Istanbul auf dem Weg in seinen Tag, hier sieht man weder das Religiöse von Fatih noch die Kraft der Jugend von Beyoglu – hier sieht man Männer in Anzügen und Frauen in Businesskostümen, aber ein paar Meter weiter, an der Oberfläche, da sieht man wieder die Schaufenster der Geschäfte, die an Osteuropa erinnern, und man sieht einen alten, halbnackten Mann, der auf der Straße liegt und bettelt. Und irgendwann, wenn man einen Vormittag lang durch die Straßen von Istanbul läuft, dann weiß man überhaupt nicht mehr, wo man eigentlich ist.Vielleicht kann es einem Mercan Dede erklären.
Mercan Dede ist DJ und Musiker, er kam aus einem kleinen anatolischen Dorf zum Studieren nach Istanbul, vor mehr als zwanzig Jahren, nach vier Jahren zog er nach Kanada und jetzt lebt er die Hälfte des Jahres dort und die andere Hälfte in Istanbul, eigentlich lebt er aber im Flugzeug und in den Nachtclubs dieser Welt. Mercan Dedes Wohnung hat eine wunderschöne Sicht auf den Bosporus, auf den asiatischen Teil der Stadt. Istanbul liegt Mercan Dede zu Füßen, was auch daran liegt, dass er hier ein Superstar ist.Wir fragen ihn, ob er uns bitte Istanbul erklären könne. Er sagt: „In Istanbul geht das Gute mit dem Bösen Hand in Hand, es ist eine Stadt der Gegensätze: manches extrem hübsch – manches extrem hässlich; manches extrem modern – manches extrem traditionell. Jeder, der nach Istanbul kommt, kann seine eigene Reise machen. Egal, was man sucht – in Istanbul kann man es finden.“ Hört sich das nicht zu leicht, zu einfach, zu gut an? Mercan Dede sagt, dass man natürlich einen Preis dafür zahle, wenn man in Istanbul lebt. Er spricht über den Verkehr, den man nicht mehr in den Griff bekommt, er spricht von der Vernichtung der Natur: „Sie holzen die Wälder ab, um Wohnungen zu bauen.
Niemand weiß, wie viele Menschen in Istanbul leben, aber jeder weiß, dass es immer mehr werden.“ Offiziell hat Istanbul 14 Millionen Einwohner, wahrscheinlich sind es 16 Millionen. „In den Siebziger-, Achtzigerjahren war Istanbul für viele Türken ein Versprechen – hier sei das Leben so wie in New York, im Westen, vieles sei aus Gold. Dann kamen sie nach Istanbul und stellten fest, dass hier wenig aus Gold ist, und wenn doch, dann war es nicht für sie bestimmt, denn sie kamen arm und ungebildet in diese Stadt. Sie waren Bauern, aber für Bauern gibt es in Istanbul nichts zu tun.“ Mercan Dede sagt aber auch, dass hier in Istanbul die Menschen in Harmonie zusammenleben könnten, und erzählt von einem Garten, an dem eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche stehen – und die Menschen dort teilen sich diesen Garten. Er sagt, dass viele Menschen im Bosporus die Grenze zwischen Europa und Asien sehen – er sieht, dass der Bosporus Europa und Asien zusammenhält, und deshalb sei der Bosporus der schönste Platz in Istanbul. Und wenn wir wissen wollten, wie er das meint, dann müssten wir nur einmal hinuntergehen zum Wasser, zum Bosporus, dann würden wir ihn vielleicht verstehen, und dann würden wir vielleicht auch Istanbul verstehen.
DRITTER TAG
Der Bosporus. Freitagmorgen, halb acht.Wir fahren ein paarmal mit der Fähre hin und her vom europäischen Teil zum asiatischen und wieder zurück und dann noch einmal.Wenige fahren von Europa Richtung Asien, viele fahren von Asien Richtung Europa, diese Fähren sind meistens voll: hübsche Frauen, Männer in Anzügen, die meisten haben die Kopfhörer ihres iPods in den Ohren, sie sind auf dem Weg zur Arbeit, in die Geschäftsviertel des europäischen Teils.Wir bleiben in Asien und entdecken neben der Anlegestelle für die Fähren den Stand einer angeblich humanitären Organisation. Ihr Anliegen: den armen Menschen im Libanon und in den palästinensischen Gebieten zu helfen. Der Feind: Israel, die USA. Die Männer, die den Stand betreuen, reden mit uns, sie erklären uns ihre Sache, bald steht auch ein Koran-Lehrer dabei, der sagt, dass das Übel der Welt im Kapitalismus liege.
Der Koran-Lehrer fragt uns, ob die Bilder, die hinter uns auf einem Fernseher laufen, auch in Deutschland gezeigt werden. Denn das seien die wahren Bilder des Krieges. Die Wahrheit ist demnach ein totes libanesisches Baby mit einem Bauchschuss. Als wir gehen, gibt uns einer der Männer seine Visitenkarte. Er ist Mitglied in der Partei des Ministerpräsidenten Erdogan. Wir verlassen den asiatischen Teil der Stadt. Unser Ziel ist eines der sogenannten Gecekondu-Viertel, in denen die wohnen, die wenig bis gar nichts haben, übersetzt bedeutet „Gecekondu“: „über Nacht hingestellt“. Nach altem osmanischem Recht darf ein Haus, das über Nacht gebaut wurde, nicht wieder abgerissen werden – und so sehen die meisten Häuser bis heute auch aus. Es sind Schandflecke im Bild des modernen Istanbul, in den vergangenen Jahren gab es viele Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Bewohnern der Gecekondus, die geräumt werden sollen, weil Firmen das Land gekauft haben, um eine Fabrik oder ein Einkaufszentrum zu bauen. Und es gibt Gecekondu-Viertel, in denen lässt sich die Polizei seit Jahren nicht mehr blicken. Eines dieser Viertel liegt eine halbe Stunde Autofahrt von Fatih, dem religiösen Viertel, entfernt. Hier leben Menschen, die in der Türkei „Cingeni“ genannt werden, entsprechend etwa dem deutschen „Zigeuner“. Doch wenn es nach den Behörden geht, leben sie da bald nicht mehr, denn in ein paar Wochen sollen Bulldozer kommen und alles zerstören. Eine Firma hat das Land gekauft und die Bulldozer werden keine Mühe haben, denn die Häuser sind Baracken und die Straßen sind Schotterwege.Wir sitzen in einem Raum, den die Männer als Café nutzen, aber es gibt hier nicht viel mehr als ein paar Tische und ein paar Stühle.
Zwanzig Männer stehen um unseren Tisch, alle reden durcheinander, sie wollen wissen, was wir suchen, und sie wollen uns ihre Geschichte erzählen, die Geschichte der Cingeni von Istanbul, die hier seit Generationen leben, hier geboren werden und sterben und nie etwas anderes sehen als diesen Slum. Sie können weder lesen noch schreiben, sie sagen, dass die meisten von ihnen als Träger auf dem Basar arbeiten, viele haben Knasttätowierungen. Einer der Männer sagt, er sei 47 – er sieht zwanzig Jahre älter aus, hat keine Zähne, seine Augen sind erloschen, er schwitzt. An den Oberarmen hat erWunden, die aussehen, als würde er sich mit der Rasierklinge in die Haut ritzen. Es gibt zwei Gründe dafür, sich die Oberarme aufzuritzen:Wenn man nicht mal mehr Geld für Nadeln hat, dann ritzt man sich die Haut blutig, um das Heroin irgendwie in die Blutbahn zu kriegen. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere Möglichkeit ist, dass man sich körperlichen Schmerz zufügt, um einen anderen Schmerz nicht mehr zu fühlen. Wenn sie jetzt das, was sie Heimat nennen, auch noch verlieren, werden die Schmerzen unerträglich – das sagt der, dem das Café gehört. „Wir sollen woanders leben, aber wir haben noch nie woanders gelebt, wir wollen auch nicht woanders leben, wir leben hier schon seit Jahrzehnten. Die Stadt will uns Geld geben und neue Wohnungen.Aber wir wollen nur unsere Würde behalten.“ Er sagt, dass alle, die hier wohnen, nur dieses Leben kennen; und ihr Leben vererben sie weiter an ihre Kinder und Enkelkinder, weil sie sonst nichts haben, was sie vererben könnten.
Ortswechsel. In der Nähe des Großen Bazars, da, wo die Touristen sind und wo sich die Stadt Fremden am liebsten zeigt, treffen wir Betül, Aynur und Zeynep in einem Café, wo man Tee trinkt und Wasserpfeife raucht. Die drei Mädchen sind Mitte zwanzig, genau wollen sie es nicht sagen, sie kokettieren damit, sie flirten auch ein wenig, wenn sie an ihrer Wasserpfeife ziehen, denn sie wissen, dass sie hübsch sind, das macht sie stolz und arrogant. Alle drei tragen ein Kopftuch. Eine von ihnen, Aynur, ist verheiratet, wenn sie redet, Fragen beantwortet, dann verdreht sie die Augen, es hat etwas Schnippisches. Aynur war gerade länger in Schanghai und irgendwann will sie mal nach Italien, aber nicht nach Rom oder Mailand, denn sie mag westliche Großstädte nicht besonders. Sie trägt Jeans, offene Schuhe und sie sagt: „Istanbul ist ein Traum.“ Ihre Freundin Zeynep sagt: „Wir müssen diesen Traum beschützen.“ Sie sagen nicht, wovor.
Betül spricht englisch, sie hat Geschichte studiert, denn wenn man die Geschichte versteht, dann versteht man auch die Gegenwart und vielleicht auch die Zukunft. Betül sagt, dass der Islam die wichtigste Rolle in ihrem Leben spielt. Deshalb trage sie auch ein Kopftuch. Wie sieht dann also ihr Leben aus? Sie sagt, eigentlich gehören ihr Leben und der Islam zusammen, man könne das gar nicht so genau trennen. Manchmal, sagt sie, sei es aber schwer. Warum? „Ich habe böse Gedanken.“
Wir fragen die drei, ob sie sich selbst als moderne Frauen bezeichnen würden. „Nein“, sagen sie da, sie seien nur sie selbst, nicht mehr, nicht weniger, ohne irgendeine Definition. Welche Erwartungen haben sie an ihr Leben? Aynur, die verheiratet ist, sagt, dass sie keine Erwartungen habe, sie sei schon zu oft enttäuscht worden. Sie sagt nicht, was das für Enttäuschungen waren, sie will jetzt gar nichts mehr sagen. Jetzt will sie wissen, was wir über sie denken. Es ist ein seltsames Gespräch zwischen jungen Menschen an einem Freitagabend. Es ist, als ob man sich kennen lernt und doch weiß, dass man sich fremd bleibt. Zum Abschied reichen wir uns die Hände.
Mitarbeit: Dirk Schönlebe, Selcuk Sahil