Irgendwo zwischen den Plattenbauten hat ein Stadtplaner diesen terrassenartigen Platz anlegen lassen. Wacklige Röhren stehen in der Mitte, wie Fernrohre. Wenn man durchschaut, sieht man die Häuser von Gorbitz, die Balkone, die Wohnungen und Leben der Nachbarn. Die Steine, die den schmutziggrünen Flecken begrenzen, sind zu Wörtern gefügt."Fragment" ist eines, daneben "Identität" und "Standpunkt".
Unten im Elbtal, in der Innenstadt von Dresden, redet man nicht gut über Gorbitz. In den Kneipen des Szeneviertels Neustadt sitzen die Studenten und Kreativen in kuscheligem DDR-Retroambiente und erzählen sich schaurige Geschichten über das größte Neubaugebiet der sächsischen Landeshauptstadt. Jemand hat kurz dort gewohnt, berichtet lange von rechtsradikalen Nachbarn und "Kaputtniks". Auch in Internetforen werden Erstsemester davor gewarnt, nach Gorbitz zu ziehen, weil dort nur "Russen, Nazis und ALG-II-Empfänger wohnen".
Nein, eigentlich sei es doch hier in Gorbitz ganz schön, sagt die junge Türkin, die ihren Kinderwagen am Fernrohrplatz vorbeischiebt, als man sie fragt, wie es ihr hier gefalle. Die Bewohner der Plattenbauten, die unten am Hang stehen – also näher an der Altstadt –, sagen,die "Assis" leben weiter oben, rund um das "Gorbitz Center" mit seinen Ramschläden und Discountern. Dort oben in den noch unsanierten Häusern sagen sie, das Ghetto fange eine Straße weiter an. Eine Straße weiter zeigen sie auf die nächste Straße.
Sicher: Hier, am Westrand der Elbstadt, ist es vorbei mit Dresdens Barock, italienischer Eleganz und Touristenströmen. Kieselsteinwaschbeton statt Sandsteinherrlichkeit. Es stimmt: Hier wohnen viele Arbeitslose und deutschrussische Spätaussiedler. Aber was heißt das schon? Wie ein Ghetto wirkt das Viertel jedenfalls nicht. Eher kleinbürgerlich. Bieder. Auf den Balkonen Deutschlandfahnen, Hirschgeweihe, riesige geschnitzte Thermometer. Das soziale Klima: kühl, aber unauffällig. Nur selten lungert jemand draußen herum, meist ist es dafür auch zu zugig zwischen den Blocks. Autos mit verdunkelten Scheiben, hinter denen zähe Bässe wummern, fahren durch die Straßen. Hier und dort sieht man Liebesbezeugungen für den Regionalligisten Dynamo Dresden, manchmal zusammen mit dem Wort "Hools". Die Dresdner Polizei sagt, dass sich die Sicherheitslage in Gorbitz nicht von der in der restlichen Stadt unterscheidet.
Das Problem hier ist weniger Gewalt als Langeweile. Die Monotonie der ewig gleichen Sechsgeschosser, zwischendrin mal vier Hochhäuser, eine Schwimmhalle, ein mäßig besuchter Klub. Die Langeweile vieler Bewohner, die hier nur schlafen und fernsehen wollen. Ausnahmslos alle, die man fragt, warum sie hier wohnen, antworten: weil es so schön ruhig ist. Doch diese Ruhe hat etwas Gespenstisches. Die Betreuer in den drei Jugendklubs erzählen von vernachlässigten Kindern, die oft hungrig ins Haus kommen, bis abends um neun bleiben und deren Eltern sich nie sehen lassen.
Auch Jürgen Czytrich hat nichts gegen Ruhe, aber ihm wird es doch langsam unheimlich: "Das Viertel steht auf der Kippe", sagt der ehemalige Bibliothekar. Er wohnt selbst in Gorbitz, ab und an führt der 46-Jährige Besucher durch das Quartier. Er zeigt den Leerstand, der sich durch die Häuser frisst, die Klingelbretter an manchen Aufgängen, auf denen nur noch zwei statt zwölf Namen stehen. Ständig verschwinden ganze Häuserzeilen. Wie in einem Tetrisspiel macht es "puff" – und weg sind sie. Wo vor zehn Jahren noch Leben war, stand vor vier Wochen ein Riegel mit 420 verwaisten Wohnungen– drum herum schweres Gerät, das an den Mauern bohrte und auf sie einhämmerte wie riesige Eisenspechte. Heute schon werkeln kleine Gartenmaschinen auf neu entstandener Brache, planieren und pflanzen. Morgen sitzen hier Senioren auf Bänken. Wenn es so weitergehe, werden nie Studenten hier wohnen, keine Akademiker, keine Künstler, befürchtet Czytrich.
Früher, Anfang der Achtzigerjahre, als die Wohnkästen auf diesen sumpfigen Hang gesetzt wurden, war Gorbitz in der unter Wohnungsknappheit leidenden DDR eine Verheißung: Warmwasser, Fernheizung, Kaufhallen. Auch wenn die ersten Bewohner nur in Gummistiefeln zum Bus laufen konnten, weil es noch keine Wege gab. Die Kräne setzten, Jahre nachdem die ersten Bauabschnitte fertig waren, immer wieder neue sozialistische Wohnträume von Gleichheit und Brüderlichkeit zusammen. Platte um Platte, Modul um Modul. Im Fernsehen wurden die feierlichen Schlüsselübergaben gezeigt. Zwar gab es schon früh Spott über die "Wohnsilos", "Fickzellen mit Fernheizung" (so der Dichter Heiner Müller) oder "Arbeiterschließfächer" – doch vom Professor über das Studentenpärchen bis zum Facharbeiter lebte hier ein bunter Querschnitt der Bevölkerung. Für 45 000 Bewohner war die Stadt an der Stadt geplant.
Heute wohnen hier weniger als die Hälfte. Wer es sich leisten kann, ist längst weggezogen: in die gemütliche Neustadt, ins Grüne oder in den Westen. Einst sahen die Gorbitzer Häuser alle gleich aus, grau und weinrot, Typ WBS 70 (WBS für "Wohnungsbauserie"). Inzwischen sind die sanierten Blocks in Pastell getaucht, unterscheiden sich in Nuancen – nur findet man bei den Bewohnern längst nicht mehr alle Berufe und Interessen. Jürgen Czytrich bleibt hier. Er ist zuversichtlich: Wenn man es nur richtig anstellt, kommen die Leute zurück. Deshalb zeigt er den Teilnehmern der Führung am liebsten die "Kräutersiedlung" in Gorbitz-Süd. Hier wurden Sechsgeschosser zu Mehrfamilienhäusern mit neuen, großen Balkonen und Vorgärten umgebaut. Bruchstein abgetragener Häuser ist zu Schallschutzwänden und Kletterfelsen aufgetürmt – ein kleiner Triumph über die Altlasten, über Geschichte.
"Man muss sich eben eine Platte machen", meint Czytrich und grinst über sein Wortspiel. "Doch wenn saniert wird, dann meist nur noch quadratisch, praktisch, gut." Der umtriebige Bewohner gründete nach der Wende einen "Verein für Lebenskultur und Gemeinsinn". In einer Schule,die schon dem Abriss geweiht ist, organisieren die Mitglieder eine Laborschule und soziokulturelle Projekte. Hier probt die Seniorentheatergruppe "Ohne Verfallsdatum" für die Aufführung ihres neuen Stücks, Hochhausgeschichten. Darin geht es um ehemalige Nachbarn, die in den Westen gegangen sind und nun Heimweh haben. Geborgenheit im Beton war möglich. Das wissen auch die Zwillinge Stefan und Thomas.
Die Brüder sind exakt so alt wie Gorbitz, 1982 geboren. Wenn sie von der Siedlung erzählen, dann erzählen sie von einem Zuhause. Zu Hause, das war der Geruch von Linoleum im Hausflur, das waren die Blicke in gegenüberliegende Fenster, die nachmittäglichen Fußballspiele zwischen den Wäscheständern, der Wind, der leise durch die Fugen pfiff. Dann der Zusammenhalt: Feten im Trockenkeller, Grillen auf den Höfen, Arbeitseinsätze.
Anfang der Neunzigerjahre, als das Viertel endlich fertig gebaut war, sind die Nachbarn und Freunde plötzlich weggezogen. Stefan und Thomas verstanden das nicht: "Warum sollte das Leben hier auf einmal schlecht sein?" Später haben auch sie in anderen Stadtteilen gewohnt. Nun, am Beginn ihres Studiums, kehren sie wieder zurück – in eine Vier-Raum-Wohnung, die genauso geschnitten ist wie ihr damaliges Heim. 74 Quadratmeter Erinnerung für 100 Euro Kaltmiete. Die Wohnungsbaugesellschaften haben für Studenten Sondertarife eingeführt. Manchmal bekommt man obendrauf kostenlos Internet aus der Steckdose.
Bei der Übergabe schreiten Thomas und Stefan die Wohnung ab, erzählen davon, wie es damals aussah und was sie nun anders machen wollen. Das Zimmer, in dem Stefan wohnte, bezieht nun Thomas, dessen Zimmer wird Abstellraum. Er zeigt auf die Heizung, die Stefan anbrüllte, wenn er sich mit seinem Kumpel verabreden wollte, der eine Etage über ihnen wohnte. Die Rohre trugen Stefans Stimme durchs ganze Haus.
Früher sah es bei Verwandten und Freunden überall genauso aus, die gleichen Möbel am gleichen Ort, die Eckcouch rechts im Wohnzimmer, der Esstisch links in Küchennähe. Die Geschwister wollen es auch so machen, das Sofa in ihrer eigenen neuen Wohnung ist sogar das alte der Eltern. Heute unterscheiden sich die Wohnungen: Bei den wenigen jungen Paaren ist die Einrichtung meist mehr oder weniger zusammengewürfelt, bei Älteren schaut es oft gediegen aus wie in einer Bauernkate. Sobald die Kinder aus dem Haus sind, schneiden sich viele einfach Durchgänge in die Wände, um dem Grundrissfluch zu entkommen.
Stefan und Thomas werden lange brauchen, die marode Wohnung zu renovieren. Doch an Verfall haben sich die Zwillinge gewöhnt. Wenn sie zum Beispiel bei ihrer alten Schule vorbeischauen wollen, finden sie die schon seit einiger Zeit mit Brettern vernagelt. Auch hier in ihrem neuen Zuhause werden sie gegenüber in gardinenlose Fenster schauen, in denen Abend für Abend kein Licht aufgeht. "Das ist schon manchmal deprimierend", findet Thomas und blickt nach draußen. Da unten duckt sich eine ehemalige Kaufhalle zwischen den Blocks und wartet auf den Abrissbagger. Jemand führt seinen müden Hund langsam um einen riesigen Strommast herum. Dann auf einmal sagt Thomas etwas, das ihn vielleicht selber überrascht: "Wenn ich mehr Geld hätte, würde ich nicht hier einziehen."