Rafael nascht am liebsten Haribo Phantasia, Fiona mag TropiFrutti lieber. Rafael putzt sich die Zähne mit Signal, Fiona mit Elmex. Rafael wäscht die Haare mit Kérastase, Fiona mit Elvital. Die Geschwister sind 16 und 19 Jahre alt, gehen aufs Gymnasium und leben mit ihrer Familie in der Pfälzer Gemeinde Haßloch: zwei ganz normale Jugendliche aus einem ganz normalen Ort. Was sie essen oder womit sie sich pflegen, wäre nicht weiter von Belang, würde nicht die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Haßloch für Konzerne wie Coca-Cola oder Tchibo Waren des täglichen Bedarfs testen, bevor sie deutschlandweit auf den Markt kommen.
Rafaels und Fionas Mutter, Ute Jung, hat die Familie vor rund zehn Jahren angemeldet. Als Dank erhält sie einen monatlichen Einkaufsgutschein über 15 Euro, ein Abo für eine Fernsehzeitschrift und einen Zuschuss zur Kabelgebühr. Außerdem kann sie an Verlosungen teilnehmen. Dafür muss Ute Jung einmal im Jahr einen Bogen mit dreißig Fragen ausfüllen und bei jedem Einkauf an der Supermarktkasse eine Karte mit einem Strichcode zücken, die man über einen Scanner zieht.
Ein Ort, der dem Durchschnitt des Landes entspricht, heißt im Marketingdeutsch „Magic Town“ – magische Stadt. Haßloch ist eine Magic Town. 3500 von 10 000 Haushalten werden von der GfK erfasst und bilden einen repräsentativen Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Haßloch ist berühmt, weil es so gewöhnlich ist. Die Gemeinde hat rund 20 000 Einwohner. Der Bäcker schließt zur Mittagszeit, die S-Bahn bringt Pendler in 15 Minuten nach Ludwigshafen. Es gibt abgesenkte Bürgersteige, Bremshügel und Fachwerkhäuser, einen Freizeitpark, fünf Kirchen und einen englischen Wikipedia-Eintrag. „Beinahe alle Markenartikler waren schon in Haßloch. Wir haben hier insgesamt 400 Tests durchgeführt und noch niemals eine falsche Vorhersage gemacht“, sagt Thomas Hertle, der bei der GfK AG für die Testmärkte verantwortlich ist. Das Marktforschungsunternehmen ist weltweit das viertgrößte seiner Branche und veröffentlicht auch die Fernseheinschaltquoten. Gegründet wurde das Institut im Jahr 1934 in Nürnberg, unter anderem auch von dem späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard.
Es gibt unterschiedliche Methoden, das Verhalten der Verbraucher zu testen. Man kann sie im Internet, zu Hause oder in der Fußgängerzone befragen. Man kann ihnen einen Werbespot zeigen, sie vor ein Regal führen und anschließend fragen, welche Waren sie kaufen würden. Allerdings haben diese Methoden einen großen Nachteil: Die Versuchspersonen wissen, dass sie beobachtet werden, und das verfälscht das Ergebnis. In Haßloch stehen die Waren in normalen Supermärkten wie Edeka, Real oder Penny. Die Firmen, die Produkte testen lassen, nehmen in Kauf, dass die Konkurrenz theoretisch nur in den Laden gehen und aufmerksam die Regale absuchen müsste, um herauszufinden, was andere planen. Wichtig ist ihnen, dass der Kunde nicht merkt, dass er gerade ein Testprodukt kauft. „Wenn in einem Supermarkt bis zu 20 000 Waren in den Regalen stehen“, sagt Hertle, „geht ein Testprodukt darin unter.“ Der Kunde greift zu, ohne zu merken, dass er etwas Neues vor sich hat. Dank der Strichcode-Karte kann die GfK zudem feststellen, ob ein Haushalt einen Müsliriegel nur einmal oder mehrmals kauft oder zwischen verschiedenen Shampoos wechselt. Diese Methode macht den Testmarkt Haßloch so treffsicher und rea-listisch – sie ist allerdings langwierig und teuer. Ein Test dauert vier bis sechs Monate und kostet mindestens 50 000 Euro.
Nur zwanzig Tests führt die GfK hier jährlich durch, obwohl siebzig Prozent aller Artikel, die neu auf den Markt kommen, nach einem Jahr wieder verschwinden. „Das Bauchgefühl funktioniert eben nicht immer“, sagt Hertle. Durch die Flops gingen der deutschen Wirtschaft 9,6 Milliarden Euro verloren.
Haßloch bezeichnet er als ein geschlossenes Gebiet. Spülmittel oder Limonade kaufen Haßlocher immer in den Läden vor Ort ein. Das kann Bettina Finco bestätigen. Fast täglich geht die Hausfrau in Märkten wie Penny oder Schlecker einkaufen. Mal mit, mal ohne ihre beiden Töchter Anna und Verena, die aufs Gymnasium gehen. Ihr Mann arbeitet im Außenhandel eines Industrieunternehmens. „Selbst wenn wir ein neues Produkt kaufen, wissen wir normalerweise nicht, ob es nur hier oder deutschlandweit eingeführt wird“, sagt Bettina Finco.
Vor ein paar Monaten ist sie mit ihrer Familie in ein neu gebautes Haus umgezogen, nur ein paar Häuser vom Lager der GfK entfernt. Aus diesem Lager holen die Mitarbeiter der GfK die Waren ab, um sie in den Supermärkten vor Ort zu verteilen. Fast täglich gehen sie durch die Geschäfte und prüfen, ob noch genug Packungen im Regal stehen. Außerdem unterhält die GfK in der Stadtmitte ein Büro, an das sich Testfamilien wie die Fincos oder die Jungs wenden können, wenn sie ihre Karte verloren haben.
Im ersten Stock des Gebäudes befindet sich das Fernsehstudio, aus dem die GfK täglich zwanzig bis dreißig Werbespots sendet. Im Gang stapeln sich graue Fernsehboxen, wie sie auch in einem Drittel der Testhaushalte ste-hen. Über sie werden Werbespots eingespeist. Die GfK testet in Haßloch nämlich auch, wie sich Fernseh- oder Zeitschriftenwerbung auf die Verkäufe auswirkt. 1986 war Haßloch als einer der ersten Orte Deutschlands verkabelt worden – der wichtigste Grund, weshalb sich die GfK damals für Haßloch entschied.
Im Fernsehstudio flimmern gegenüber einem Kontrollpult drei Monitore. Jeden Tag erhält die GfK von großen Fernsehsendern wie ZDF oder RTL den Sendeplan für die Werbeunterbrechungen des nächsten Tages. Ein Mitarbeiter sucht einen Spot heraus, der die gleiche Länge wie der Testwerbespot hat. Ist es so weit, drückt er einige Knöpfe und überblendet den normalen Werbespot. Anschließend vergleicht die GfK die Einkäufe der Fernsehhaushalte mit einer Kontrollgruppe. Kauft die Testgruppe mehr als die Kontrollgruppe, würde sich der Einsatz der Werbung lohnen.
Auch bei den Jungs steht eine GfK-Box im Wohnzimmer, auch sie bekommen die Fernsehzeitschrift Hörzu, dort werden spezielle Anzeigen gedruckt. Es gibt nur eine Situation, in der den Jungs auffällt, dass sie gerade eine Testwerbung sehen. „Manchmal gucke ich in meinem Zimmer das gleiche Programm wie mein Vater im Wohnzimmer“, sagt Tochter Fiona. „Wenn bei einer Werbung im Wohnzimmer ein anderer Ton als bei mir zu hören ist, dann weiß ich, dass dort jetzt gerade ein Testwerbespot läuft.“
Genau wegen dieser Alltäglichkeit nennt Kai Saalbach Haßloch ein „tolles Werkzeug“. Der 41-Jährige leitet die Marktforschung des Keksherstellers Bahlsen, der in den vergangenen zehn Jahren drei Produkte in Haßloch getestet hat, darunter 1997 den Schokoriegel Pick Up!, der erst in Haßloch und dann in ganz Deutschland zum Erfolg wurde. „Haßloch ist weder hinterwäldlerisch noch großstädtisch, sondern ganz normal“, sagt er. „Es gibt sogar den Quotenpunker am Bahnhof.“ Obwohl fast alle Hersteller Alltagswaren in Haßloch getestet haben, geben nur wenige darüber Auskunft – auch deshalb, weil die Tests Marktforscher wie Saalbach in einen Zwiespalt bringen. „Wenn wir einen neuen Keks entwickeln, müssen wir unsere Backstraßen umstellen und manchmal einige Millionen Euro in neue Verpackungsmaschinen stecken“, sagt Saalbach. „Bei einem Test in Haßloch verkaufen wir 1000 bis 2000 Packungen. Bei solchen Stückzahlen können wir die Verpackungen nicht einzeln anfertigen.“ Schlägt der Test fehl, war die millionenteure Vorbereitung umsonst, und für ein neues Produkt wären neue Tests nötig.
Wegen solcher Kritik hat die GfK ihre Preise gesenkt und ein weiteres Werkzeug entwickelt: den Testmarkt Vorderpfalz, der sich zwischen Kaiserslautern und Ludwigshafen befindet und zu dem auch Haßloch gehört. Hier kann die GfK in einem Gebiet mit 139 000 Einwohnern die Einkäufe messen und bei 84 000 Kabelfernsehkunden Testwerbung einspeisen. Zwar fehlt im Gegensatz zu Haßloch ein Überblick darüber, welcher Haushalt was gekauft hat, dafür sind die Tests jedoch deutlich schneller.
Der Süßwarenhersteller Ferrero hat offensichtlich ebenfalls schon in Haßloch getestet. Zwar will die Presseabteilung keine Auskunft darüber geben, wann welche Waren getestet wurden, aber zumindest einen Test kann man als enttarnt betrachten. „Vor ein paar Jahren haben wir ständig Ferrero Garden gekauft, weil wir sie so gerne gegessen haben“, erzählt Bettina Fincos zwölfjährige Tochter Anna. „Als wir sie nicht mehr kaufen konnten, waren wir traurig – aber nach einem halben Jahr standen sie wieder im Regal.“