Herr Muri, schön, dass Sie sich Zeit genommen haben.
Das habe ich gern gemacht.
Zeit ist ja bekanntlich Geld. Stimmt doch, oder?
Das ist insofern richtig, als die Zeit über zwei Mechanismen an das Geld gekoppelt ist: zum einen über den Stundenlohn oder den Monatslohn und zum anderen über den Zins.
Darum heißt auch der Glaubenssatz unseres Wirtschaftssystems: Wer Zeit spart, spart Geld.
Kurzfristig gesehen mag das stimmen, langfristig oftmals nicht. Denn für Zeit, die wir sparen, müssen wir anderenorts bezahlen. Das zeigt der Zeiterhaltungssatz von Professor Walter Lentzsch.
Der Zeiterhaltungssatz?
Er entspricht dem Energieerhaltungssatz, der besagt ja bekanntlich: Energie geht nie verloren, sie ändert nur ihre Form. Und so ist es auch mit der Zeit. Wenn ich versuche, Zeit zu sparen, muss ich mir gut überlegen, was das langfristig bedeutet. Es kann gut sein, dass ich kurzfristig viel Zeit einspare, aber dass ich dafür mit vielen anderen Dingen bezahlen muss. Wir sollten deshalb erst denken, bevor wir losrennen.
Was heißt das konkret?
Ein prägnantes Beispiel ist der Haushalt: Früher mussten die Menschen körperlich noch härter arbeiten. Heute nehmen uns viele Haushaltsgeräte die Arbeit ab. Die gewonnene Zeit verbringen wir jetzt damit, ins Fit-nesscenter zu gehen, um uns fit zu halten.
Aber was für einen Preis muss die Wirtschaft zahlen, wenn sie rationalisiert und Zeit spart?
Nehmen wir die Einführung der E-Mail. So kann heute zwar innerhalb eines Betriebes wesentlich schneller kommuniziert werden. Aber die Mitarbeiter haben untereinander auch weniger persönliche Kontakte. Es können dadurch Konflikte entstehen, die früher in einem direkten Gespräch schnell aus dem Weg geräumt waren. Ein weiterer Nachteil ist, dass jeden Morgen so viele E-Mails im Ordner sind. Die E-Mail kostet so letztlich mehr Zeit als früher das Erledigen der Post.
Aber die Vorteile der E-Mail überwiegen schon ihre Nachteile.
Es war nur ein harmloses Beispiel. Im Extremfall kann das Bemühen eines Unternehmens, Zeit zu sparen, zu dessen Ruin führen.
Wirklich?
Ja. Ein Unternehmen, das seine Produktion hochgradig rationalisiert, kann unter Umständen so viel herstellen, dass es den Markt übersättigt. Ein oder zwei Staubsaugerhersteller können so viele günstige Staubsauger auf den Markt werfen, dass sie die Preise und eine ganze Branche zerstören und am Ende auch selber nicht mehr existieren können. Die ständige Beschleunigung in der Wirtschaftswelt hat aber noch eine andere, für uns alle täglich erfahrbare, dramatische Folge.
Und die wäre?
Stress. Das wird gern vergessen, wenn Unternehmen darüber nachdenken, wie sie Geld sparen können: Der Zeitdruck, dem die Menschen in der Arbeit ausgesetzt werden, führt zu Stress und der führt zu Krankheit und Arbeitsausfällen. Das kostet die Wirtschaft jedes Jahr Milliarden von Euro. Ich denke, das grundlegende Problem ist, dass in der Wirtschaft heute die Zeit mit der Uhr verwechselt wird.
Das heißt?
Wir sollten unterscheiden zwischen der Uhrenzeit und dem, was ich die Seelenzeit nenne. Die Uhr zeigt nur die Bewegung im Raum an, die Länge einer Sekunde, einer Stunde, eines Tages, nicht jedoch die Seelenzeit.
Und was meinen Sie mit Seelenzeit?
Die Seele ist die Lebensenergie, die uns bei unserer Geburt mitgegeben wird. Wenn ich von Seelenzeit spreche, dann meine ich diese Energie. Die Griechen kannten dafür den Begriff Kairos - die Zeitqualität - im Gegensatz zu Chronos, der Uhrenzeit. Die Seelenzeit lässt sich mit der Uhr nicht messen, sie ist aber mit der Uhrenzeit verbunden. Man kann sagen: Motion = Emotion. Bewegung im Raum führt immer auch zu einer Bewegung in der Seele.
Und was bedeutet das für die Wirtschaft?
So wie wir heute wirtschaften, bewegen wir uns immer schneller im Raum, machen immer mehr Dinge gleichzeitig. Das wirkt sich auf die Seele, auf die Psyche der Menschen aus, sie fühlen sich gestresst. Wir sind nun einmal Lebewesen, wir sind an Zeitrhythmen gebunden. Die heutige Wirtschaft mit ihrer Schichtarbeit und ihren Arbeitszeitflexibilisierungen zerstört jedoch diese Zeitrhythmen und damit letztlich auch unsere Kultur.
Warum?
Wenn Sie die Sieben-Tage-Woche einführen oder dafür sorgen, dass die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten im Schichtdienst arbeiten müssen, dann können diese sich nicht mehr begegnen. Das aber ist die Voraussetzung dafür, dass sich eine gesellschaftliche Kultur entwickelt. Früher haben die Menschen zusammen den Feierabend und die Feiertage verbracht. Heute müssen in Familien oftmals Mann und Frau arbeiten, sie müssen ihr Kind in die Krippe bringen und sehen sich nur noch an den Wochenenden, wenn überhaupt. Die Menschen haben zu wenig Seelenzeit.
Was sollen wir dagegen tun?
Wir müssen umdenken: Denn eine Gesellschaft, die keine Zeit hat, lebt nicht. Ob in einer Gesellschaft Wohlstand herrscht, erken-ne ich nicht an der Höhe des Bruttosozialprodukts, sondern daran, ob die Menschen sich darin wohl fühlen, ob sie Zeit haben. Wenn Sie hierzu eine Umfrage machen, fällt die deutlich schlechter aus als noch vor zwanzig Jahren. Wir sind auf dem falschen Weg.
Sie meinen, wir sollten alle weniger arbeiten?
Wir sollten eine Welt schaffen, in der alle Menschen Zeitwohlstand haben - nicht nur eine Elite. Zeitwohlstand zu haben meint nicht Faulheit. Es heißt, dass die Menschen ihren Zeitrhythmen folgen können. Unterschiedliche Menschen haben da ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Ein junger Mensch möchte vielleicht flexibler sein, mehr unterwegs sein als ein älterer Mensch. Eine Mutter mit Kindern braucht andere Arbeitszeiten als ein Single. Auf die Bedürfnisse all dieser Menschen müsste eine gesunde Gesellschaft eigentlich zugeschnitten sein. Stattdessen haben wir die Wirtschaft in den letzten Jahren zunehmend dereguliert, um mit den Billiglohnländern mitzuhalten. Die Folge ist, dass die Menschen - die Arbeitnehmer wie die Arbeitgeber - permanent rennen müssen, immer schneller. Hinzu kommt, dass viele Unternehmen vierteljährlich ihre Bilanzen vorlegen müssen. Das setzt Manager zusätzlich unter Druck und den geben sie an ihre Mitarbeiter weiter. Es wäre viel besser, wenn die Unternehmen nur einmal im Jahr ihre Zahlen präsentieren könnten. Das würde die Möglichkeit eröffnen, genauer und langfristiger zu planen und nicht auf den schnellen Gewinn zu zielen.
Warum herrscht dann in der Wirtschaft der vierteljährliche Turnus?
Das liegt an der Größe vieler Unternehmen. Wenn Sie einem nur kleinen Unternehmen vorstehen, dann können Sie tatsächlich auch nur einmal im Jahr Ihre Bilanz vorlegen. Ich habe ein kleines Unternehmen. Die ersten Jahre habe ich nur darauf geachtet, dass ich liquide bin. Am Ende des Jahres habe ich mir die Bilanz kurz angesehen und dann in die Ecke geworfen. Ich habe im Gefühl, wie es läuft. Ich spüre, ob das Unternehmen gesund ist oder nicht. Für den Manager eines Großkonzerns ist das nicht möglich. Das gibt es kein Gespür mehr, sondern nur noch Zahlen. Großkonzerne sind nur noch lenkbar, wenn man vierteljährlich plant und die Zahlen kontrolliert. Zugespitzt formuliert kann man sagen: Viele Großkonzerne ähneln heute Kombinaten, wie es sie früher im Ostblock gab. Sie sind zu groß, zu unübersichtlich und werden planwirtschaftlich organisiert.
Sie würden also jedem Arbeitnehmer raten, lieber in einem kleineren Unternehmen zu arbeiten?
Ja, aus zwei Gründen. Zum einen kann sich in Kleinbetrieben ein persönlicheres Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitnehmern entwickeln. Unternehmer, die ihre Angestellten kennen, werden sie in schwierigen Zeiten nicht so schnell auf die Straße setzen, weil sie mit jedem Mitarbeiter ein persönliches Schicksal verbinden. Je größer ein Unternehmen ist, desto größer wird die Anonymität. Und in der Anonymität ist es leichter, schreckliche Dinge zu tun. Zum anderen ist es in Großkonzernen auch meist so, dass das Unternehmen dem Manager nicht gehört. Wer sein Unternehmen besitzt, der wird es pflegen. Ein Manager, der am Gewinn beteiligt ist, wird dagegen nur auf den schnellen Profit zielen, auch wenn dies das Unternehmen langfristig zu Grunde richtet.
Bleibt den Industriestaaten in einer globalisierten Wirtschaftswelt denn etwas anderes übrig, als an der Uhr zu drehen? In Deutschland wird derzeit von vielen Arbeitnehmern verlangt, dass sie länger fürs gleiche Geld arbeiten sollen, um international auch konkurrenzfähig zu bleiben.
Das ist ein vollkommener Blödsinn. In der globalisierten Welt gilt der Satz "Zeit sparen heißt Geld sparen" für Industriestaaten erst recht nicht mehr. In einem Land wie Deutschland können Sie gar nicht so viel Zeit sparen, um so viel Geld zu sparen, dass Sie mit Billiglohnländern mithalten können. Die Menschen könnten 48 Stunden am Tag arbeiten, sie werden in Deutschland niemals auch nur annähernd so günstig produzieren können wie in China. Nun hat man lange gesagt, dass die Industrie in Deutschland produktiver ist, dass man die schnelleren und besseren Maschinen besitzt. Aus diesem Grunde dürfen auch die Löhne etwas höher sein. Aber das stimmt heute leider auch nicht mehr. In China stehen inzwischen die gleichen Autowerke wie in Deutschland.
Und jetzt?
Die einzige Möglichkeit, die es auf lange Sicht gibt, ist, die Handelsströme zu kanalisieren, die Kapitalfreizügigkeit einzuschränken und die Löhne weltweit anzugleichen.
Das klingt nicht so, als würde sich dies so bald durchsetzen lassen. Unsere Wirtschaft wird wohl weiter versuchen, aufs Tempo zu drücken.
Ich denke, bei den Geldflüssen haben wir das Maximum schon erreicht. Mit einem Mausklick können Sie heute Milliarden in Sekunden ans andere Ende der Welt transferieren. Und auch bei der Produktion wird es nicht immer schneller und schneller gehen können, wie das bekannte Schweinebeispiel zeigt.
Das Schweinebeispiel?
Um 1900 wurde ein Schwein geschlachtet, als es ein bis zwei Jahre alt war. Heute kommt es bereits nach fünf bis sechs Monaten in den Schlachthof. Wenn diese Entwicklung so weitergehen würde, müssten wir die Schweine im Jahr 2013 schlachten bevor sie auf die Welt kommen.