"Abi 05: 3...2...1...meins." Der Schriftzug zieht sich im Ebay-Stil über das schwarze T-Shirt, das Charly lässig über die Stuhllehne geworfen hat. Im Mai waren die letzten Prüfungen, im Juni der Ball. Auf die obligatorische "Was hast du nach dem Abi vor?"-Frage hat sie in der Abizeitung knapp geantwortet: "Urlaub - Freiwilliges Soziales Jahr - irgendein Job, der mich glücklich macht."
Jetzt ist Charlotte Geiß - genannt Charly, 19 Jahre alt, Kölnerin - mit diesen Gedankenspielereien in der Gegenwart angekommen. Die Zukunft liegt vor ihr und braucht eine Form. Umschalten auf Langzeitmodus: Einfach ist das nicht. 13 Jahre lang haben andere für sie den Stundenplan gebastelt. Zuletzt hieß das: Deutsch jeden Montag von 8.00 bis 9.35 Uhr, große Pause, dann Französisch. Ende um 14.10 Uhr mit Sozialwissenschaft. Ganz angenehm war der Mittwoch mit zwei morgendlichen Freistunden - auf den ein anstrengender Donnerstag folgte: Unterricht bis in den Spätnachmittag. Bei der Freizeitgestaltung galt die feste Regel: Planung "höchstens bis Freitag", grinst Charly. Das Wochenende wurde der Spontaneität überlassen. Leben im Hier und Jetzt eben.
Dass die Zukunft sie nicht vor den Toren des Gymnasiums abholen, an die Hand nehmen und ihr den weiteren Weg weisen würde, das war ihr nicht erst bei Überreichung des Abschlusszeugnisses klar. Schließlich hat sie vier ältere Geschwister, die sich alle schon mit dem Thema Lebensplanung beschäftigen mussten. Eine Weile lang, etwa gegen Ende der Mittel- und am Anfang der Oberstufe, hatte Charly noch der nebulöse Gedanke begleitet: "Du machst Abi, dann gehst du auf die Uni." Basta. Und als sie ihre Leistungskurse wählen sollte, war sie überzeugt: "Die Fächerwahl lenkt mich irgendwie." Tat sie aber nicht. Denn Französisch und Kunst haben nicht viel mit Psychologie zu tun. Und Letzteres wollte sie auf einmal studieren.
Aber auch diesen Plan hat sie längst wieder über den Haufen geworfen: "Mir ist dieses Studium zu lang. Ich will nicht von einer Schule in die nächste hüpfen. Ich bin mehr der praktische Typ." Von der Idee des Freiwilligen Sozialen Jahres hat sie sich allerdings auch verabschiedet, weil ihr für die eigene Auszeit eine einzige Arbeitsstelle zu wenig ist: "Wenn ich mir schon ein Jahr genehmige, dann will ich mir auch viel anschauen, viel erleben." Drei Praktika hat sie sich jetzt selbst organisiert - in unterschiedlichen Bereichen einer Schule für psychisch kranke Jungen und Mädchen und in einem Betreuungsprogramm für Kinder in der Klinik. "Ich bin schon jemand, der sein Leben plant", sagt Charly, "das gibt einem ja auch Sicherheit."
Jetzt weiß sie, was bis März 2006 passiert. Die Praktika sind Charlys Entscheidungshilfen, sie sollen die Bedenken zügeln, das Falsche zu wählen. "Damit sieht man doch erst mal: Was erreiche ich mit einem bestimmten Studiengang oder einer Ausbildung?" Eines will sie später nämlich auf keinen Fall: noch mal das Studienfach oder den Ausbildungsplatz wechseln. "Ich will mich richtig entscheiden, und das direkt." Der Auszug von zu Hause ist so lange verschoben, bis sie weiß, wo für sie der ideale Studiengang oder die ideale Ausbildung im sozialen Bereich angeboten wird. Die Eltern drängen sie bei der Entscheidung nicht, lassen ihr die Zeit, die sie braucht - und halten ihr finanziell den Rücken frei. In einem ambulanten Pflegedienst verdient sie sich trotzdem ein bisschen was dazu: Den Eltern zu sehr auf der Tasche liegen, das will sie nicht.
So überhaupt nicht mehr wie eine 19-Jährige klingt Charly, wenn sie von ihren zahlreichen Krankenhausaufenthalten erzählt, der letzte vor zwei Jahren. Die Diagnose: eine Thrombose im Gehirn. "Da hast du die Endlichkeit schon vor Augen", sagt sie nachdenklich. Noch dazu musste sie sich plötzlich ernsthaft Gedanken über Familienplanung machen. "Kinderkriegen ist nicht mehr, hat der Arzt gesagt." Denn eine Schwangerschaft stellt aufgrund der Medikamente, die sie noch immer nehmen muss, ein zu hohes Risiko dar. Für die damals 17-Jährige, selbst glücklich aufgewachsen in ihrer großen Familie, war das ein Schlag: "Das Familienmodell stellst du doch nie in Frage."
Dennoch, Charly bleibt grundoptimistisch, lacht weiter ihr ansteckendes Lachen und hofft trotzdem auf Nachwuchs. Irgendwie. Laut Abizeitung sieht ihr Leben in zwanzig Jahren nämlich so aus: "Beschäftigt, aber zufrieden im Garten meines Hauses sitzend, abwechselnd Kind und Hund zurechtweisend, mit dem Laptop auf dem Bauch."