Als der Erste aus den Katakomben trat, stiegen Leuchtraketen in den Himmel, verfolgt von funkensprühenden Kugeln und heulenden Wirbeln, mit einem Schlag standen im Norden wie im Süden die Fankurven in Flammen. Die Fans hatten bengalisches Feuer gezündet und Donnerschläge, sie schossen mit Signalmunition, bis sie nur mehr Qualm atmeten. Als der letzte Spieler aus den Katakomben kam, ließen sie dutzende Rollen Klopapier auf das Spielfeld regnen, die kometengleich mit wehendem Schweif auf dem Rasen aufschlugen. Alles war wie immer. Wie jeden Sonntag bei Heimspielen im „Estadio Casa Blanca“, der Festung von Liga Deportiva Universitaria Quito. Der Schiedsrichter pfiff, das Spiel begann.
Als es endete, war alles anders. Es waren 112 oder 102 oder 90 Minuten vergangen, hier kommt es wie bei der Bewertung des ganzen Geschehens auf den Standpunkt des Betrachters an. Sicher ist nur dreierlei: dass der Schiedsrichter an diesem 8. September 2002 Byron Moreno hieß, so berühmt wie berüchtigt für seinen Auftritt während der Weltmeisterschaft drei Monate zuvor, als er das Achtelfinale zwischen Italien und Südkorea leitete, das Italien umstritten verlor; dass sich außerdem an diesem Sonntag Morenos Leben wandelte und dass Liga Quito dieses Spiel gegen Barcelona Guayaquil 4:3 gewann, durch ein Tor keine zwei Minuten vor dem Schlusspfiff. Es war der Höhepunkt einer Geschichte, wie sie der Fußball Ecuadors noch nicht gesehen hatte.
Von 112 Minuten Spielzeit sprechen nach der Partie die Zeitungen der Küstenregion Ecuadors, die lauthals ihre Wut über die Niederlage ihrer Mannschaft und vor allem über den Schiedsrichter in die Welt schreien. Dieser Herr, so zitieren sie den Vereinspräsidenten von Barcelona Guayaquil, sei ein Betrüger, der nichts weniger als einen Mord-anschlag auf den ecuadorianischen Fußball verübt habe, denn dieser Herr habe gegen alle Regeln 112 Minuten spielen lassen – genau so lange, bis Liga Quito, in der regulären Spielzeit noch 2:3 im Rückstand, zwei Tore geschossen hatte. Was für ein Zufall, höhnt der Präsident Guayaquils, dass dieser Herr sich gerade jetzt unter dem Slogan „Rote Karte für die Korruption“ um eine Sitz im Stadtparlament von Quito bewerbe. Der Vereinspräsident Leonardo Bohrer ist so in Rage, dass er nicht merkt, dass er einen Fehler begeht: Er spricht beständig davon, dass die Partie 112 Minuten gedauert habe. Es ist ihm egal. Er sagt, von diesem Tag an sei nichts mehr so, wie es einmal war im Fußball Ecuadors.
Von 102 Minuten Spielzeit und einem „dramatischen Triumph“ des Lokalmatadors berichten die Medien der Hauptstadt Quito, die mäßigend einzugreifen bemüht sind. Nur kurz schildern sie die Ausschreitungen der „Hinchas“, der fanatischen Fans, die nach der Partie mit Wut im Bauch und Steinen in der Hand ungezählte Auto- und Fensterscheiben in Scherben schlugen. Umso mehr suchen sie den Verlauf der Partie zu erklären. Wie Guayaquil schon in der dritten Minute in Führung gegangen war. Wie das Spiel dann wild wurde. Wie Schiedsrichter Moreno seine Entscheidungen traf: zwei Elfmeter, für jede Mannschaft einen, zwei rote Karten, für jede Mannschaft eine, dazu ein wegen Handspiels annulliertes Tor von Liga Quito und schließlich jenes unglückselige Ende – in der 90. Minute signalisiert Byron Moreno sechs Minuten Nachspielzeit, doch spielen lässt er zwölf. In der 99. Minute schießt Liga den Ausgleich. In der 101. Minute den Siegtreffer. In der 102. pfeift Moreno ab. Er muss das Stadion unter Polizeischutz verlassen. Von 90 Minuten Spielzeit spricht Byron Moreno selbst. Er habe ein reines Gewissen, sagt er in einem Interview nach der Partie, denn er habe, wie stets, genau gemäß den Regeln gehandelt. Den Regeln nach dauere ein Fußballspiel immer 90 Minuten; eventuelle Verzögerungen während dieser Zeit seien direkt im Anschluss durch Nachspielzeit auszugleichen. Nichts anderes habe er gemacht, sagt Moreno, „ich habe mir nichts vorzuwerfen“. Dann kommt die Nachricht, dass der ecuadorianische Fußballverband FEF den Schiedsrichter für zwanzig Spiele sperrt und eine Untersuchung anstellt. Moreno zieht sich zurück. Er wartet.
Im Land ist derweil die Meinung der Öffentlichkeit wechselhaft. An einem Tag verhöhnt man Moreno, am nächsten wäscht man ihn rein, am dritten schließlich fordert man seinen Kopf – er gilt abwechselnd als Lichtgestalt oder als Witzfigur des ecuadorianischen Fußballs.
Byron Moreno, ein Mann, dessen hängende Augenlider ihn träge und tölpelhaft wirken lassen, wird zu einem Sinnbild – es ist, als bündele sich in der komischen Gestalt dieses Schiedsrichters die ganze wundersame Begeisterung der Ecuadorianer für ihren Sport, den Fußball.
Byron Moreno nämlich war lange Jahre Ecuadors Stolz. Immer war er der Jüngste und immer der Beste. Als Jugendlicher schon pfiff er Partien der Liga Bellavista, der Amateurliga der Stadtviertel des Landes, mit 18 war er jüngster Schiedsrichter Ecuadors, mit 23 leitete er Spiele der Ersten Liga. Als er 26 wurde, beschlossen FEF und Fifa, dass Byron Moreno von nun an auch Länderspiele pfeifen dürfe. Sein Ruf war makellos und furchtbar zugleich. In einem Land wie Ecuador, in dem Fußball mit unerhörter Leidenschaft gespielt wird, in dem die meisten Spieler einen ebenso zärtlichen wie brutalen Spitznamen bekommen – so wird der Stürmer Darwin Caicedo „La Metralla“ genannt, die Maschinenpistole –, in einem derartigen Land hatte es Moreno als Schiedsrichter zu einem eigenen Ehrennamen gebracht: Sie nennen ihn „El Justiciero“ – der Gerechtigkeitsliebende. Keinen gibt es, der die Regeln besser kennt und strikter auslegt als Byron Moreno. „Ich kämpfe für das saubere Spiel“, pflegt er zu sagen, so pfeift er auch – die kleinste Regelwidrigkeit wird geahndet. 1998, in der Begegnung zwischen einer mexikanischen und einer brasilianischen Mannschaft, stellt Moreno sechs Spieler vom Platz. Den Aufruhr darüber versteht er nicht. In Ecuador hatte er schon einmal sieben Spieler des Feldes verwiesen, Rekord, worauf er erklärte: „Sie ließen mir keine andere Wahl.“ Ecuadors Sportjournalisten machen sich bald einen Spaß daraus, Statistiken über Morenos rote Karten zu führen, in seiner besten Saison kommen sie auf 1,08 Stück pro Spiel. Gleichzeitig wählen sie ihn regelmäßig zum besten Schiedsrichter des Landes. Er ist mit seiner strikten Liebe zu den Regeln der Gegenpol zu der zügellosen Liebe zum Fußball in seinem Land, die Spieler wie Fans oft ohne Rücksicht handeln lässt. Das bringt ihm so viele Freunde wie Feinde. Vor allem aber macht es ihn zum Star.
Als im Januar 2002 bekannt gegeben wird, dass Moreno als zweiter Ecuadorianer in der Geschichte bei einer WM pfeifen werde, werden seine Freudentränen über die Nominierung zur Schlagzeile gemacht. „Ein Traum geht in Erfüllung“, sagt Moreno und erklärt, seine Nominierung sei ein Beweis dafür, dass der Fußball und das Schiedsrichterwesen Ecuadors eine neue Qualität erreicht haben. Doch als Moreno von der WM zurückkehrt, von ganz Italien gehasst und der Welt verdächtigt, erwartet ihn ein gespaltenes Land: Die eine Hälfte verteidigt ihn weiter als den Gerechten und schreibt unzählige Briefe, er solle bitte nur nicht aufhören; die andere Hälfte klagt ihn als Betrüger an und verfolgt begierig, wie die Medien von vielen Anrufen Morenos am Tag des Achtelfinales und danach von einem neuen Haus und einem neuen Auto berichten. Moreno versucht sich zu verteidigen; er gibt Interviews und sagt, das Auto sei ein Opel, das Haus zur Miete und sein Gewissen rein, aber es hilft nichts: Er hat seine Aura des Gerechtesten der Gerechten unter den Schiedsrichtern verloren. Seine Feinde warten nur noch auf einen Fehler. Am 8. September 2002 ist es so weit. Morenos Schlusspfiff in der 102. Minute des Spiels zwischen Quito und Guayaquil wird auch zum Schlusspfiff seiner Karriere. Zwar erbringt die Untersuchung des ecuadorianischen Verbandes keine Beweise für Betrug, auch darf Moreno nach der Sperre von zwanzig Spielen wieder pfeifen, doch es ist vorbei – egal, wie er nun in einem Spiel entscheidet, am Ende wird er immer ausgepfiffen, bespuckt, verhöhnt. Er steht allein. Sechs Monate hält er aus. Dann gibt er seinen Rücktritt bekannt. „Ich glaube an einen sauberen Fußball“, sagt er, „und ich werde bis zu dem Tag, an dem ich sterbe, ein Schiedsrichter bleiben.“ Er meint es ernst. Byron Moreno arbeitet inzwischen als Kommentator für den Sender Telesistema und beurteilt dabei Schiedsrichterentscheidungen. Bis heute pfeift er ehrenamtlich Spiele der Liga Bellavista, der Amateurliga der ecuadorianischen Stadtviertel. Sein letztes großes Spiel war die Meisterschaft der „Barrios“, am 8. Januar 2006, 25K Arabia Guayas gewann 5:3 gegen Aguarico Jr. Sucumbíos. Byron Moreno verteilte acht gelbe Karten.
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