Noch drei Jahre, sagt Hu Xiaoguang, noch drei Jahre, dann hat sie die 500.000 Yuan zusammen, umgerechnet 70.000 Euro. Dann kann sie ihrer Familie ein neues Haus kaufen, ihren Sohn auf die Universität schicken, nach Hause zurückkehren, einen kleinen Kiosk eröffnen. „Dann habe ich es geschafft“, sagt Hu, eine kleine Frau mit rundlichem Gesicht und von Arbeit gezeichneten Händen.
38 Jahre ist sie alt, seit sieben Jahren lebt sie auf zehn Quadratmetern in einem dunklen Mietzimmer in einem Hinterhof in Schanghai, mit nur einer Sporttasche voll Kleidung unterm Bett, einer Kochplatte in der Ecke und einem kleinen Fernseher an der Wand. Jeden Morgen um acht Uhr schwingt sie sich auf ihren grünen Elektroroller und fährt ihre feste Route ab: Montag früh muss sie zu Familie Li in das Hochhaus an der Anfu Road, dienstags zu den Brownings in der Loftwohnung neben der U-Bahn-Station und mittwochs zu dem deutschen Pärchen mit dem unaussprechlichen Namen. Hu arbeitet in Schanghai als „Ayi“, was auf Chinesisch wörtlich Tante bedeutet: Sie putzt, bügelt, kauft ein, kocht, wechselt Windeln, füttert Katzen.
Die Ayi ist in China eine Institution, mehr als nur Haushälterin und Nanny, nämlich auch heimliches Familienmitglied und die gute Seele des Hauses. In Schanghai, der reichsten Stadt Chinas, wo die Leute Geld haben, aber keine Zeit, arbeiten Hunderttausende Ayis. Die meisten sind mittleren Alters und kommen wie Hu aus dem Landesinneren, aus entlegenen Dörfern. Sie wuchs in einem Bergkessel in der Provinz Anhui auf, 460 Kilometer westlich von Schanghai – und doch Lichtjahre entfernt. Das Haus der Familie war eine Baracke, zu siebt teilten sich die Kinder zwei Betten. Statt Reis gab es bloß getrocknete Süßkartoffeln. Als sie 13 wurde, konnten die Eltern das Schulgeld nicht mehr zahlen, also folgte Hu ihrer drittältesten Schwester in die Provinzhauptstadt, um Fahrräder zu reparieren. Als die Kommunistische Partei die Wirtschaft Stück für Stück liberalisierte, strömten Bauernkinder, angelockt vom Aufschwung, in die Großstadt. Hu arbeitete in Restaurants, Hotels, auf dem Gemüsemarkt, in Friseursalons und auf dem Bau. Dazwischen kehrte sie heim, heiratete und bekam einen Sohn. Damit er einmal ein besseres Leben führen wird als sie, ließ sie ihn und ihren Mann 2008 zurück und zog allein nach Schanghai.
Hu heuerte erst bei einem jungen Designerpärchen aus Hongkong an, später bei Schanghaier Ärzten, amerikanischen Managern, deutschen Ingenieuren und italienischen Architekten. Sie lernte Schanghainesische Schweinerippchen und Spaghetti Bolognese zu kochen, Hemden zu bügeln und Wein zu kühlen. Ihre Kunden nennen sie „Hu Ayi“ und zahlen ihr 30 Yuan pro Stunde, umgerechnet 4,20 Euro. In guten Monaten verdient sie 7.000 Yuan, etwa 1.000 Euro. Das ist kein schlechtes Gehalt: etwa so viel wie ein junger Uni-Absolvent im Durchschnitt und viermal so viel, wie ihr Mann als öffentlicher Angestellter in ihrem Heimatort verdient.
Zwei Drittel des Geldes legt Hu jeden Monat zurück. Sie hat kein Smartphone, sie geht nie ins Restaurant und schneidet sich ihre Haare selbst. Abends schaut sie in ihrem Zimmer fern oder telefoniert mit ihrem Sohn. Acht war er, als sie nach Schanghai ging, heute ist er 15. Hu hat die meisten seiner Geburtstage verpasst, sie kennt weder seine Lehrer noch den Namen seiner Freundin. „Zehn Jahre, das war mein Ziel“, sagt Hu, so lange wird sie in Schanghai bleiben. Wenn sie endlich das Geld hat, die 500.000 Yuan, wird sie ihre Sporttasche packen und nach Anhui zurückkehren. Das Geld wird sie in die Zukunft ihres Sohnes investieren, in das Ingenieurstudium, von dem er träumt. Später, das hofft sie, wird auch er einmal in einem Loft wohnen, Auto fahren, um die Welt reisen und mit teuren Smartphones telefonieren. Vielleicht wird er sich sogar eine eigene Ayi leisten können.