In diesem Jahr kam die Welle früher als sonst. Schon im September, so hört man, ging es los. Da regnete es tagelang, und der Berliner Himmel, der ihren blau und gelb gemusterten Verwaltungsklotz umgibt, verdichtete sich zu einem kalten grauen Brei. Die Mitarbeiterinnen des Jugendamts Lichtenberg mussten eigentlich gar nicht erst nach draußen schauen, um zu spüren, dass es langsam Winter wurde. In den Ablagen und Schränken stapelten sich die Meldungen, Telefone schrillten, besorgte Hinweise und Denunziationen gingen ein. Das Stresslevel stieg an. Wenn die Temperaturen sinken, beginnen die Bürger verstärkt durchzudrehen. Im Jugendamt ist das so eine Art Faustregel, das passiert eben, und man hat sich daran gewöhnt. "Die hocken alle in der kleinen Bude und sind angenervt", sagt Angela Schuknecht*, auch Schuki genannt. "Na, und die Nachbarn hören besser hin. Die geben auch öfter Bescheid, was in ihren Häusern passiert", sagt Tine Fink. Im Moment hagelt es jedenfalls Fälle, überall knallt es – Krise, wohin man blickt. Das heißt: Es ist sehr viel zu tun.
"Willkommen im Wahnsinn Jugendamt", sagt Anke Möllers, genannt Mölli, im Erdgeschoss. Sie will heute Abend eigentlich zum Ballett gehen, weiß aber noch nicht, dass sie kurz vor dem Ende ihrer Rufbereitschaft noch einen Notfall hereinbekommen wird, der mal wieder alle ihre Pläne über den Haufen schmeißt. Mölli ist für die Auswahl von Pflegefamilien zuständig. Wenn ein Kind für Tage, Wochen, Monate nicht mehr bei seinen Eltern bleiben kann, dann klingelt bei ihr das Telefon. Flüsternd wendet sie sich ihrer Kollegin Tine Fink zu: "Du, Tine, hast du schon gehört? Ich hab diese Woche schon vier Babys gehabt. Am Montag ging’s los. Der Selbstmord. Die Mutter, die vom Balkon..."
Tine Fink arbeitet jetzt seit sieben Jahren in diesem Klotz. Sie ist eine fast mädchenhaft wirkende 34-jährige Sozialpädagogin. Jeansrock, rosa Perlmuttohrringe, Hello-Kitty-Gürtelschnalle, Piercing im Mund. Von ihrem Schreibtisch im achten Stock aus hat sie einen weiten Blick über Ostberlin. Hinter den Sandbergen, den Frachtcontainern, den Strommasten, bei den Wohntürmen da hinten irgendwo ist ihr Revier. Es ist eine Gegend, in der die Vermieter noch keine Einkommensnachweise fordern. Die Menschen, die da leben, haben nicht viel Geld. In etwa 75 Prozent der Haushalte, mit denen sie zu tun hat, so schätzt sie, arbeitet kein Elternteil.
Mit ihrer Büronachbarin Sabine Bunzel, genannt Sabinchen, möchte sie trotzdem nicht tauschen. Die ist für die feinen Leute aus den Villen und Einfamilienhäusern im äußersten Süden Lichtenbergs zuständig. Die Gelackten, die nicht unbedingt weniger, nur anderen Ärger haben als die armen Schlucker. Die sich gegenseitig ihre Anwälte auf den Hals hetzen und sich vom Jugendamt nicht reinreden lassen, wenn es ihren Töchtern und Söhnen dabei dreckig geht. Tine Fink hat eine Wand in ihrem Büro mit Dankespostkarten und Kinderzeichnungen geschmückt. Sie sagt: "Ich mag meine Familien. Ich habe ein tolles Gebiet."
Eine Mutter ließ ihre Kinder wie Tiere vom Boden essen
Etwa 80 Fälle betreut jede Sozialpädagogin hier parallel. Die Schränke sind voll, manche Akten sind so dick wie eine Kaffeekanne, Gerichtsprozess folgt auf Gerichtsprozess, andere beinhalten nicht mehr als ein, zwei Seiten Papier. Man mag es gar nicht glauben, aber jede Meldung, die beim Jugendamt eingeht, wird verfolgt. Viele Informationen sind wertvoll. Manche sind es nicht. In einem der Ordner liegt ein anonymer handgeschriebener Brief. Im Stile eines pensionierten Stasi-Agenten listet ein Herr auf, was alles bei seinen Nachbarn, denen er offenbar hinterherspioniert, im Argen liegt.
An sich geht es den Staat nichts an, was in den Familien passiert. Doch wenn Kinder und Jugendliche in Gefahr sind, wenn sie misshandelt, geschlagen, psychisch gequält werden oder sonstwie unter ihren Eltern leiden, sieht die Sache anders aus. Dann schreiten Tine Fink, Sabinchen, Mölli und die anderen Kolleginnen des Jugendamts im Namen des achten Teils des Sozialgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland ein. Intervenieren in den Familien, organisieren das, was auf Behördendeutsch ganz harmlos "Hilfe zur Erziehung" heißt und in Wahrheit unzählige Therapiearten, Beratungen, Betreuungsinstitutionen meint.
Die Akten hier sind auch so etwas wie ein Kompendium der familiären Abgründe ihres Stadtbezirks. Eine 13-Jährige bekommt ein Baby von einem Elfjährigen. Eine Mutter ließ ihre Kinder regelmäßig wie Tiere vom Boden essen. Eine Kindergärtnerin fragte sich, warum ein kleiner Junge wohl ständig Hakenkreuze malt. Ein Mann wurde nachts wiederholt im Bett seiner Stieftochter erwischt. Die Sozialpädagoginnen betraten eine Wohnung, in der Maden an der Decke krochen, Wellensittiche in Schwärmen durch die Räume flatterten, Dutzende Hunde und Katzen herumtollten und inmitten des Kots ein hungernder Junge herumstand.
Immer wieder kommt es richtig schlimm.
Ein Polizist sagt: "Mit Ihnen möchte ich wirklich nicht tauschen, das ist mir zu hart." Ein Bewährungshelfer sagt: "Ich habe unglaubliche Hochachtung vor Ihrer Arbeit." Wieder mal ein Fall verschärfter Pubertät. Auch da müssen sie ran. Tine Fink sagt: "Ich habe den besten Beruf der Welt." Sie ist eine unfassbar fröhliche Frau, aber natürlich schlägt ihr das alles auch manchmal aufs Gemüt. Kinderschänder zum Beispiel. Das sind einfach Menschen, für die sie nur schwer Verständnis aufbringen kann. Manchmal sitzt sie in einem Gespräch mit einem Mann, der früher mal seine Söhne vergewaltigt hat, und ertappt sich dabei, wie sie denkt: "Schwein! Schwein!" Aber sie lässt sich das nicht anmerken. Sie ist hier, um zu helfen. Alle sind gleich oder: müssen es sein.
Tine Fink und die anderen quatschen sich den ganzen Mist einfach von der Seele. Eine klebt den Smiley auf ihre Tür, das heißt: Komm rein, trink Kaffee, sprich mit mir. Sie nehmen sich gegenseitig in den Arm. "Oh Hase, bei mir knallt’s. Bei dir auch?" Und dann sitzen sie zum Beispiel bei Frau Schubert alias Schubi unter dem großen Bild des Schlosses Neuschwanstein, grüne Wiesen und Berge, weit weg von Lichtenberg, ziemlich menschenleer und heile Welt, reden über die Bürger da draußen. Grausam, verrückt, manchmal aber auch ganz wunderbar. "Psychohygiene", nennt Tine Fink das. "Löschen. Neustart. Weiter geht’s."
Um kurz vor elf trägt sie die Akten durch den mit Linoleum ausgelegten und mit Fotos von graffitisprühenden Jugendlichen dekorierten Flur im achten Stock des Klotzes und präsentiert im Konferenzraum ihr neuestes Problem. Mal wieder ein Fall verschärfter Pubertät. Die Mutter eines 14-jährigen Jungen hat Angst, dass es bald irgendeine Art von Katastrophe in ihrer Familie geben wird. Der Sohn sei, so hört man, ein "tickendet Pulverfass". Hockt zu Hause und spielt Computer. Benimmt sich wie Sau. Behauptet, er möchte lieber ins Heim, weil es da mehr Taschengeld gibt. Hat Mitschüler geschlagen und erpresst. Sagt, dass er Machtkämpfe liebt. Und später will er mal irgendwas mit Waffen machen, einen Beruf, in dem er schießen kann. Bundeswehr vielleicht. Die Mutter, erzählt Tine Fink, habe mit folgenden Worten um Hilfe gebeten: "Ick bin zu jeder Schandtat bereit."
Zur mentalen Grundausstattung ihres Berufs gehört der unbedingte Glaube daran, dass das Schicksal eines Menschen nicht festgeschrieben ist. Dass es zwar Prägungen in den Biografien gibt, vererbte und erlernte Verhaltensmuster, aber jeder sich zum Besseren ändern kann. Immer wieder hört man hier jemanden von Weichen sprechen. Als seien die Menschen Lokomotiven und das Jugendamt das Stellwerk, sagen manche beim Blick auf einen besonders verworrenen Fall: "Es wurden die falschen Weichen gestellt." Tine Fink meint: "Wenn ich nur einem von zehn Kindern helfen kann, dann hat es sich schon gelohnt."
Eine Stunde lang diskutieren sieben Sozialpädagoginnen und ein Psychologe über diesen pubertierenden Jugendlichen und seine Situation. "Es ist bei denen im Moment wie in einem Waffenstillstand", sagt der Psychologe. "Kein Frieden, aber auch kein Krieg." Dann kommen sie gemeinsam zum Schluss, dass dem Jungen vermutlich am besten mit einem Erziehungsbeistand, optimalerweise männlich, geholfen werden kann.
Am nächsten Arbeitstag ist bei Tine Fink eigentlich ein junger Mann angemeldet. Er hat die Mutter seines ungeborenen Kindes, das Kind selbst und den neuen Freund kürzlich per SMS mit dem Tod bedroht. Nun möchte er erklären, dass er sich Sorgen um sein Kind macht und die Mutter wegen ihres Drogenkonsums für verantwortungslos hält. Doch es kommt etwas dazwischen, was man in der Sprache des Jugendamts eine Krise nennt. "Konnte nich’. Hab ’ne Krise gehabt. Krise geht vor. Und wat macht deine Krise?" So reden sie hier im Klotz.
Die Polizei meldet Tine Fink einen Fall von häuslicher Gewalt. Ein Mann in ihrem Zuständigkeitsgebiet hat seine Frau "geflickt", das heißt verprügelt, richtig mit den Fäusten auf sie drauf. Weil er dabei den einjährigen Sohn geschüttelt, an den Armen gepackt und durch den Raum geschleudert haben soll, ist es automatisch eine Angelegenheit des Jugendamts. Das Kind könnte bleibende Gehirnschäden erlitten haben, es muss schnellstmöglich ins Krankenhaus.
Tine Fink und ihre Kollegin Schuki steigen in den silbernen Skoda Fabia. Ein Privatauto, Dienstwagen gibt es hier nicht. Sie fahren immer der Sonne entgegen, 20 Minuten lang durch eine nicht enden wollende Häuserschlucht. Vor einer roten Mietskaserne, wo schon der wartende Spezialist für Kindesmisshandlung steht, parken sie und steigen aus. "Bezirksamt Lichtenberg, können wir mal reinkommen?"
Die Wohnung wirkt auf den ersten Blick kaum wie der Ort eines Verbrechens. Nicht heruntergekommen, nicht böse, sondern sauber, ordentlich, wie aus dem Ikea-Katalog.
Sie sind es gewohnt, beschimpft, bedroht und belogen zu werden
Studentin Nastasia aus der Ukraine, eine zierliche Frau mit langen blonden Haaren, erst auf den zweiten Blick sieht man, dass sie Schrammen und blaue Flecken auf den Armen hat. Nastasia lernt gerade Chemie. Was denn dem Kind bei der Schlägerei passiert sei, fragen Tine Fink und Schuki. "Hingefallen? Aus welcher Höhe? Auf welches Körperteil?"
"Nichts passiert. Alles gut", sagt die Frau. "Ich bin Mutter, ich kenne Sergej. Er hat nichts."
"Haben Sie Angst?" "Njet."
Dann bricht sie in Tränen aus und gesteht, sie habe noch Kopfweh. Ihr Mann schlage sie immer absichtlich auf den Kopf, ihr wichtigster Körperteil, weil sie doch studieren muss.
Die Sozialpädagoginnen fahren mit ihr und dem Kind ins Krankenhaus, aber die Ärztin stellt keine Verletzungen bei Sergej fest. Trotzdem wird die Frau gebeten, noch einmal am frühen Abend ins Jugendamt zu kommen, am besten gemeinsam mit ihrem Mann.
Kurz vor dem Termin postieren sich zwei Polizisten bei angelehnter Tür im Nebenraum. Niemand kann einschätzen, wie gewalttätig der Vater wirklich ist. Sie haben keinen eigenen Wachdienst im Jugendamt, obwohl es immer wieder mal brenzlig wird. Im Büro von Miriam Zetsche steht ein Schrank, der eine tiefe fleischwundenartige Schramme im Eichenholzimitat aufweist. Letzte Woche rastete hier ein Jugendlicher in einer Besprechung aus und brüllte: "Ich töte euch alle!" Dann schmiss er einen Stuhl nach Frau Zetsche und traf das Mobiliar. Im vergangenen Jahr, erzählt der Amtsleiter, gab es auch fast mal einen Amoklauf, und sie hatten das Sonderein- satzkommando zu Besuch.
Die Polizisten im Nebenzimmer können diesmal ihren Kaffee in Ruhe trinken, denn sie müssen nicht ran. Die Ukrainerin und ihr Mann tauchen nämlich überhaupt nicht auf. Stattdessen klingelt das Telefon. Nastasia erzählt irgendwas von Nachtdienst, der Vater war da oder auch nicht, die Hilfe des Jugendamts sei nicht mehr nötig, vielen Dank auch, kein Problem, es habe sich alles geklärt.
"Die verarschen uns", sagt Tine Fink.
"Na klar", sagt Andrea Schmadtke, die man auch Schmati nennt.
"Die verarschen uns gerade mächtig, und wir sind uns nicht sicher, dass dem Kind heute Abend nichts mehr passieren wird."
Im Jugendamt sind sie es gewöhnt, dass man sie beschimpft, anlügt, abwimmeln will. "Dieset Spiel, dieset Scheißspiel der Eltern", flucht einer. So schnell verkauft ihnen hier keiner die schöne heile Familienwelt. Sie sind stolz darauf, dass in ihrem Bezirk bislang noch kein Kind ermordet worden ist. "Toi, toi, toi!", sagen sie, wenn man sie danach fragt, und klopfen mit dem Fingerknöchel auf den Tisch. Aber sie alle wissen, dass es jeden Tag passieren kann. Und wenn morgen eine Babyleiche in einem Lichtenberger Kühlschrank gefunden wird, dann sind sie dran.
Tine Fink fordert weitere Polizisten an. Mit Schuki steigt sie wieder in den Skoda Fabia, die anderen nehmen ein Taxi, es ist mittlerweile dunkel auf den Straßen, später Abend, und sie brausen an dem neuen Riesenplakat von Dildoking vorbei in Richtung Wohnung der geflickten Frau. Vier Polizisten postieren sich im Treppenhaus, noch immer ist völlig unklar, wie gefährlich es hier werden kann. Tine Fink betritt mit ihren Kolleginnen Anke Möllers und Andrea Schmadke die Wohnung. "Lassen Sie uns in Ruhe! Was wollen von uns?" Nastasia hat gerade gestillt, der Mann ist nicht da. Auf dem Boden sitzt Sergej, normal süßes Baby, hallo, Puschel, hallo, kleiner Mann, und wirft der Mölli seinen Luftballon hin. Tine Fink versucht die Frau zu überzeugen, dass sie alleine ihren Sohn vor den Schlägen unmöglich schützen kann. Der Vater habe einen Schlüssel zur Wohnung und könne jeden Moment wiederkommen. Sie diskutieren eine halbe Stunde mit der Ukrainerin, dann machen sie das, was man auch Konfrontation oder Butter bei die Fische nennt. In dem Moment, in dem Nastasia realisiert, dass das Jugendamt in Notsituationen das Baby auch gegen den Willen der Mutter in Obhut nehmen kann, stößt sie einen erstickten Schrei aus. Wahrscheinlich ist das der schlimmste Laut der Welt, eine Mischung aus Ohnmacht und Entsetzen kommt da aus ihrer Kehle raus, markerschütternd, selbst der hartgesottenen Sozialpädagogin Mölli treibt es die Tränen in die Augen. "Egal wie lange man schon hier arbeitet“, sagt sie, „daran gewöhnt man sich nie."
In ihrem Revier nimmt Tine Fink jedes Jahr nur aus einer Handvoll Familien, in denen es Probleme gibt, Kinder kurz- oder längerfristig heraus. Keine Mitarbeiterin trifft so eine Entscheidung alleine, es passiert immer im Kollektiv. "Das ist die größte Sünde der Welt", schreit die heulende Mutter. "Ich lasse ihn nicht los! Das schaffen Sie nicht! Nicht mal die Polizei! Ich gebe Sergej niemals her!"
"Wir wollen Ihnen Ihr Kind nicht wegnehmen, aber wir müssen gewährleisten, dass Sergej heute abend in Sicherheit ist", sagt Andrea Schmadtke. Zornig packt Nastasia schließlich ein, die Polizisten bringen sie gemeinsam mit ihrem Sohn in ein Frauenhaus am anderen Ende der Stadt.
Der nächste Tag beginnt für Tine Fink mit einem gefolterten und vergewaltigten Mädchen und seiner Mutter aus Tschetschenien. Außerdem steht ein Hausbesuch bei einer Familie auf dem Programm, die ein bisschen verwahrlost ist und das Jugendamt gerne abschütteln will. Zwischen den Fällen liegen oft nur zwei oder drei Minuten. Das Mittagessen fällt aus. Die Kaffeepause fällt aus. Die Zeit reicht nie für alles, deswegen pfeift man sich halt vor dem Monitor noch schnell eine Banane rein.
Die Ukrainerin öffnet die Tür und schiebt ihren Kinderwagen ins Büro. Setzt sich so weit es geht von ihrem Mann entfernt auf einen Stuhl. Zwischen ihnen nimmt ein Psychologe Platz. Sergej krabbelt unter dem Tisch zwischen Mutter und Vater hin und her. Während oben das Drama ihres gemeinsamen Lebens verhandelt wird, spielen unten die Hände der Eltern mit dem Kind. Schnell wird klar, dass es auch in diesem Fall keine einfache Wahrheit gibt. Nur Hass, Enttäuschung, Hilflosigkeit. Der Mann ist kein roher Schläger, sondern ein Mensch am Ende seiner Kräfte. Jeder ist hier irgendwie arm dran. Die Mutter zittert und flennt. Der Vater zittert und flennt. Sagt, er habe Angst vor sich selber und werde ausziehen. Er wolle, dass das nie wieder passiert.
Niemand herrscht ihn an: "Du Arschkrampe, sag, wie konntest du?" Kein Vorwurf wird laut. Der Psychologe erklärt ihnen mit Engelszungen, dass er die HOFFNUNG in ihren Erzählungen hört. Dass er ihre ANGST spüren kann. Dass Sergej trotz allem, was passiert ist, zwei TOLLE ELTERN hat. Er wird sich in Zukunft einmal pro Woche mit jedem der beiden einzeln treffen und sie beraten, damit das alles wieder besser wird. Tine Fink schiebt ein Formular aus gräulichem Recy- clingpapier über den Tisch. "Antrag auf: Hilfe zur Erziehung", rechts oben steht "be Berlin". Der Mann unterschreibt es hastig. Die Frau unterschreibt es auch. Getrennt voneinander betreten sie den Fahrstuhl und verlassen den Klotz. Draußen weht ein kühler Wind. Später fängt es zu nieseln an.