Jeden Morgen laufen die Händler in Frankfurt aufs Börsenparkett und spielen wieder einen Tag lang Finanzmarkt: aufgeregte Männer, die Ärmel hochgekrempelt, die Krawatte gelockert. Sie schreien in ihre Telefone und starren auf die Kurvendiagramme der Bildschirme. Abends berichten die Fernsehsender von den Balkonen ringsherum – wie vom Sportplatz. Sie zeigen auf den Verlauf des Deutschen Aktienindex (Dax) und sagen, dass die Märkte heute nervös reagiert haben. Als Zuschauer denkt man, dass die Händler, die auf dem Parkett herumwuseln, nervös geworden sind. Aber das ist eher selten. Die Korrespondenten sagen nicht, dass man auf das Parkett verzichten könnte, dass der Handel elektronisch stattfindet. Sie sagen nicht, was Peter Gomber sagt, Ökonom an der Uni Frankfurt – dass das Parkett die Börse „zum Anfassen“ sei, was niedlich klingt und übersetzt wohl so viel heißt wie: Es ist fast schon überflüssig.
Um zu sehen, wo jetzt über die Milliarden entschieden wird, muss man mit der U7 an den Stadtrand fahren. Eine Viertelstunde dauert es von der Frankfurter Innenstadt, dann landet man in einem hässlichen Gewerbegebiet, läuft an einem Netto-Markt vorbei und an einer Autolackiererei, bis gegenüber eine Wiese der Stadt ein Ende setzt und ein Gebäude auftaucht mit doppeltem Zaun, vielen Sicherheitsschleusen und vielen Kameras. Das Gebäude wirkt anonym. Kein Schild, auf dem Börse steht, genau genommen gar kein Schild außer: „Betreten verboten“. Jeden Morgen beginnt hier, im Rechenzentrum der Deutschen Börse, der Arbeitstag der Computer, die programmiert sind mit Algorithmen – kurz: mit Unmengen von Wenn-dann-Entscheidungen: Aktien kaufen und verkaufen, auf steigende oder fallende Kurse setzen. Der Computer entscheidet schneller, als man mit der Wimper zuckt.
Es ist seine Software, die den Computer zum Börsenhändler macht. Sie ist sein Gedächtnis und ersetzt die Erfahrung eines menschlichen Traders. Wie hat die VW-Aktie bisher reagiert, wenn die Daimler-Aktie um drei Cent gefallen ist? Wie reagiert die Börse in Frankfurt, wenn die Daimler-Aktie in Stuttgart um zwei Cent gestiegen ist? Was waren die Gründe für die Tulpenkrise in Holland Anfang 1637? Was Menschen im Gedächtnis haben, hat der Computer abgespeichert. Und er ist nervenstark. Wenn Menschen eine Aktie längst verkaufen, weil sie sagen: Das kann doch nicht so weitergehen, das ist doch eine Blase, dann hält sie mancher Computer noch, um mehr Gewinn zu machen. Klar, dass diese Software viel Geld wert ist. Vor zwei Jahren wurde ein ehemaliger Mitarbeiter des amerikanischen Finanzdienstleisters Goldman Sachs vom FBI verhaftet, weil er Teile der Software für den automatisierten Handel gestohlen haben soll.
Kühle Computer statt menschlichen Zockern
Bedenkt man, dass der Computer keinen Urlaub braucht, kein Burnout-Syndrom kriegt und noch nie nach einem Bonus gefragt hat, kann man sagen: Der Computer, das ist die Zukunft. Genauer: eine Zukunft, die schon begonnen hat. In Frankfurt läuft der Börsenhandel zu 94 Prozent über das elektronische Handelssystem Xetra. Und rund 50 Prozent davon erledigen Hochgeschwindigkeitsrechner, ohne dass noch Menschen beteiligt sind. Ein italienisches Restaurant im Frankfurter Westend. Ronny Horst bestellt Spiralnudeln mit Schinkenstückchen und Äppelwoi, hessischen Apfelwein. Horst ist ein großer 34-Jähriger mit blonden Haaren, Studium der Kunstgeschichte und zwei geschwungenen S als Manschettenknöpfen, das Logo seines Arbeitgebers: „Superfund“ – eine Investmentgesellschaft, die ihren Kunden Fonds anbietet, die von Computern gemanagt werden. Horst trinkt seinen Wein und erklärt, warum Superfund nur noch den Computern vertraut. „Computer haben keine Emotionen“, sagt er. Wenn etwas schieflaufe am Markt, dann, weil Menschen sich nicht an ihre Strategie hielten, weil sie Nerven zeigten. „Letztlich sind Menschen auch nur Maschinen.“ Nur schlechter programmierte. Ronny Horsts Firma investiert in rund 150 verschiedene Werte: vom Dow Jones, dem amerikanischen Aktienindex, bis zum Palmöl. An der sogenannten Terminbörse spekuliert sie auf Transaktionen, die erst in der Zukunft abgewickelt werden, und setzt auf fallende oder steigende Kurse. Wie im Casino. Woran Superfund glaubt, bestimmen die Computer. Die Software gibt die Kaufbefehle.
Es ist vor allem der sogenannte Blitzhandel, den manche Ökonomen für fragwürdig halten. Dabei bekommen die Computer Millisekunden früher als andere Marktteilnehmer Informationen über das bevorstehende Börsengeschehen und können so den Kurs in eine Richtung treiben, die ihnen nutzt. Kritiker sprechen von Kursmanipulation, Befürworter verweisen auf die steigende Kaufkraft, die den Handel liquide hält, und die Verringerung der Handelsspannen, die den Handel letztlich für alle sicherer und günstiger machen. Doch was ist, wenn sich die Computer gegenseitig aufschaukeln, wenn sie den Kurs einer Aktie in immer neuen Millisekundenentscheidungen blitzschnell in den Keller treiben? So sollen Computer am sogenannten Flash Crash schuld gewesen sein, bei dem im Mai 2010 der Dow Jones Industrial Average innerhalb einer Viertelstunde um knapp 1.000 Punkte abstürzte. Fest steht: Wenn sich der Kurs einer Aktie nach unten bewegt, spüren es die Computer als erstes, und einige wetten auf den weiteren Absturz. Sie meinen es ja nicht böse, sie sind so programmiert.
„Der Computerhandel sollte einer besonderen Kontrolle unterworfen werden“, sagt Michael Grünewald, Wissenschaftler am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. An den Börsen läuft der Handel gesetzlich reguliert ab, mittlerweile wird er kurz ausgesetzt, wenn eine Aktie um mehr als zehn Prozent an Wert verliert. Man zieht den Computern also einfach den Stecker. Aber die Rechner handeln auch abseits der offiziellen Börsenplätze, oft direkt untereinander, ohne Kontrolle. Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Gomber fordert daher, dass diese Grauzone gesetzlich geregelt wird. Viele Menschen haben Angst vor der Macht der Maschinen. Vor einer Welt, in der der Markt zum Pingpongspiel der Maschinen wird. Die Leute von Superfund können das nicht verstehen. „Wir akzeptieren doch auch, dass uns ein Navigationssystem im Auto die Route vorgibt“, sagt der Geschäftsführer Michael Harneit. „Wir akzeptieren, dass ein Autopilot ein Flugzeug lenkt.“ Was denn so schlimm an Computern im Finanzgeschäft sei, die nur das tun, was vor einigen Jahren Menschen taten, nur effizienter? Man kann Ronny Horst zum Für und Wider des algorithmischen Handels viele Fragen stellen, er antwortet immer höflich, und er hat auch immer eine Gegenfrage. Zum Beispiel die, was die Öffentlichkeit eigentlich dagegen habe, dass die Märkte durch die Computer effizienter werden, klar wie Mathematik, weil sie von Rechnern geleitet werden anstatt von menschlichen Zockern. Tatsächlich stellen viele Investmentbanken mittlerweile neben Ökonomen verstärkt Mathematiker, Physiker und Informatiker ein. Sie brauchen keine Leute, die selbst handeln, sondern welche, die die Computer so programmieren, dass diese selbst handeln können.
Andreas von Brevern, Sprecher der Deutschen Börse, gleitet im Lift in den 19. Stock des Glasturms seines Unternehmens. Er läuft auf einer Brücke über das Atrium, nach Westen schaut man in den Taunus, nach unten wird einem schwindlig. Auch von Brevern ist einer, der an die Effizienz glaubt. Er glaubt an die Computer. Notfalls könnten die Menschen ja immer eingreifen, sagt er. Von Brevern ist ein ruhiger Typ, man kann ihn sich schlecht am Parkett zwischen brüllenden Händlern vorstellen, aber gut zwischen Rechnern im Computerlabor. Von Brevern erzählt von den Sicherheitsmaßnahmen, die die Börse eingeführt habe – die vorgeschriebenen Pausen, wenn ein Wert immer weiter abstürzt. Die Momente, wenn das Regime der Maschinen kurz unterbrochen werde. Von Brevern vermittelt den Eindruck, die Händler hätten die Computer im Griff.
Im Rechenzentrum der Deutschen Börse stehen die Rechner der Hochfrequenzhändler, die oft in Tagesbilanzen denken – beispielsweise im Auftrag von Investmentbanken wie Goldman Sachs und Morgan Stanley oder auch kleineren Handelshäusern. Die Börse in Frankfurt, sagt Andreas von Brevern, habe gerade ihre Datenleitung erneuert; weil es bei diesen Computern um fantastisch hohe Summen in fantastisch kurzen Zeiten gehe, sei die Nähe wichtig. „Das Rechenzentrum darf nicht weit weg sein vom Handelssystem der Börse.“ Kilometer entscheiden. Viele Banken und Fonds haben die Menschen in der Wertschöpfungskette schon abgeschafft. Es gibt inzwischen ein Nachrichtensystem von Computern für Computer. In der Programmiersprache C++. Das bedeutet, wenn ein Terroranschlag passiert und im Fernsehen heißt es, die Märkte reagierten nervös, dann haben zum Teil allein Computer reagiert.
„Die Computer haben ihr Gutes“, sagt der Ökonom Peter Gomber und verweist darauf, dass die Börsen näher zusammenrücken – weil die Computer alle Kurse gleichzeitig wahrnehmen, zum Beispiel die von der Börse in Frankfurt und die in Stuttgart. „Sie tragen zur Preisbildung bei, das ist wie auf Ebay: Wenn mehrere Händler das gleiche Produkt anbieten, kann ich besser vergleichen.“ Kostet also eine Aktie in Stuttgart mehr, wird sie niemand kaufen. So lange, bis sie sinkt. Das tue dem Handel gut. Und die Computer könnten sogar Crashs – also Abstürze der Börse – vermeiden. So, wie ihnen Gier fremd ist, ist ihnen Panik meist fremd. Von Gruppenzwang hat der Computer nie gehört, er agiert, wie es ihm die Software vorschreibt, nicht, wie gerade die Stimmung auf dem Parkett ist. Die Menschen auf dem Parkett haben früher auch mal Aktien verkauft, weil es gerade in der Luft lag, weil der Händler nebenan auch verkaufte und alle nur noch schrien: verkaufen. Der Computer schreit nicht, und er hat keine Ohren. Ronny Horsts Bilanz ist dieses Jahr noch nicht so gut. Bis Ende Oktober gab es ein Minus zu verzeichnen. Das liegt am unruhigen Markt. Es liegt an den Computern, die in Tagesbilanzen denken. Die das Zickzack in den Kursen verantworten. Horsts Computer denken in Jahresbilanzen. Sie brauchen jetzt mal eine konstante Kurve nach oben oder nach unten. Langer Boom oder lange Krise, egal. Nur kein Zickzack. Computer arbeiten jetzt gegen Computer.