"Wer macht denn so etwas?", fragt Steve etwas zu laut. Unsere Tischnachbarn drehen sich fragend um. "Das können nur geldgeile oder richtig einsame Leute sein", meint Sandra. "Wahre Freunde kann man nicht kaufen oder mieten!" Ich hatte den beiden von meinem Plan erzählt, die Dienste eines Online-Portals auszuprobieren, das Freunde für jede Gelegenheit bietet. Ob für ein Geschäftsessen, zum Fernsehen oder zum Städte erkunden – für im Schnitt acht Euro pro Stunde kann man sich mit interessanten Menschen jeder Altersklasse die Zeit vertreiben.
Scott Rosenbaum gründete 2009 in den USA das Online-Portal "Rent-a-friend". Er reagierte damit auf einen Trend aus China: Junge Chinesinnen mieten sich für Familienfeste immer öfter einen Freund – um so dem familiären und dem gesellschaftlichen Druck zu entgehen. Inzwischen kann man das dank Rosenbaum auch bei uns tun. Mehr als 400.000 Menschen weltweit sind inzwischen auf seiner Seite registriert. "Rent-a-friend" ist kostenlos für alle, die sich selbst "vermieten" wollen. Wer auf der Suche nach "Mietfreunden" ist, zahlt einen monatlichen Mitgliedsbeitrag von circa 20 Euro. Was die eigenen Dienste pro Stunde kosten, entscheidet jeder "Freund" selbst.
Plötzliche Vertrautheit
Wie fühlt es sich an, mit einem gemieteten Freund unterwegs zu sein? Mit falschem Namen logge ich mich ein und klicke mich durch die Profile möglicher Kandidaten und Kandidatinnen. Manfred* (45): Auf seinem Profilbild trägt er ein Businesshemd. Vielleicht ein bisschen zu langweilig für mich. Schließlich will ich etwas Besonderes erleben.
Laura* (28): Ihre Aktivitätenliste ist lang, sie scheint sich auszukennen. Gerade will ich auf "Kontaktieren" klicken, da sehe ich ihren Stundenlohn: 30 Euro. Ist es mir das wert? Anette* (50): Sie hat, ähnlich wie Laura, sehr viele Interessen und ihr Stundenlohn ist verhandelbar. Ich schreibe ihr eine Nachricht.
Nach einer knappen Woche bekomme ich eine Antwort. Anette schreibt ein paar Sätze zu sich selbst und fragt mich, was ich mir von einem Treffen erhoffe. "Homogene Studentengruppen zu überwinden und neue Perspektiven auf eine Stadt zu bekommen, in der ich schon seit längerem lebe", lautet meine Antwort. Das scheint sie überzeugt zu haben. Annette schlägt vor, zu telefonieren. Schon während unseres Telefonats bin ich über unsere plötzliche Vertrautheit erstaunt. Wir verabreden uns zu einem Treffen auf einer "After Work Party". So etwas habe ich noch nie gemacht. Und die Bezahlung? Ich traue mich kaum, danach zu fragen. Anette reagiert ganz natürlich. "Bisher habe ich das immer so gemacht, dass ich mir lediglich den Eintritt und die Getränke oder das Essen bezahlen lasse. Immerhin habe ich auch Spaß bei so einem Treffen!" Anette lacht, ich bin überrascht.
Zu spät zum ersten Treffen
Pünktlich stehe ich am vereinbarten Ort, von Anette keine Spur. Auch fast eine halbe Stunde später nicht. Wäre ich tatsächlich auf der Suche nach neuen Freunden, käme ich mir jämmerlich vor. Was mache ich hier? Ich sehe zwei junge Frauen, die sich freudig begrüßen. Freundinnen! Ich bin mir plötzlich sicher, dass man so etwas nicht kaufen oder mieten kann. Aus Frust bestelle ich schon mal einen Cocktail und versichere dem Kellner, dass noch eine zweite Person kommt.
Gerade als mein Cocktail gebracht wird, kommt Anette beschwingt und freundlich grinsend um die Ecke: "Es tut mir leid! Mein Handy-Akku war leer. Deshalb konnte ich dich nicht anrufen." Mein Ärger verfliegt, ich bin jetzt neugierig. "Du bist also auf Wohnungssuche …?", beginne ich unser Gespräch. Anette sprudelt los. Erzählt vom Berliner Wohnungsmarkt, ihrer Ehe, ihrem Job bei der Telekom. "Ich habe so viele Menschen kennengelernt, habe 12 bis 13 Stunden am Tag gearbeitet, mein Handy mit auf die Toilette genommen, die Kunden waren die Könige, jederzeit!", erzählt Anette.
Vielleicht ist es der Alkohol, vielleicht aber auch unser gutes Gespräch: Lachend dringen wir immer tiefer in unser beider Privatleben ein. Auch über das Konzept von "Rent-a-friend" unterhalten wir uns. Seit drei Jahren ist Anette dabei. Wieso macht sie das? Sie sei unglaublich neugierig, sie wolle rauskommen, Leute kennenlernen, ihr Englisch aufbessern. Ihr Mann habe nie mit ihr Tanzen gehen wollen. Sie aber will ihre Beine bewegen, bevor sie zu alt dazu ist, sagt sie.
Um eine Erfahrung reicher
Ich frage sie, wieso "Rent-a-friend" etwas kosten muss – während es ja auch Plattformen wie "Couchsurfing" gibt, kostenlos, und mit dem Ziel, Kontakte auf der ganzen Welt anzuknüpfen. Anette ist ein bisschen empört: Couchsurfing sei etwas ganz anderes. Für "Rent-a-friend" interessierten sich nur "erwachsene Businessleute", die das nötige Geld, aber nicht so viel Zeit hätten. Da wisse man, woran man sei. Qualität würde eben kosten.
Am Ende des Abends bin ich um eine Erfahrung reicher. Dass ich den Abend bezahlen musste, habe ich schon fast vergessen. Es kommt mir für all das, was ich erlebt habe, auch nicht ungerechtfertigt vor. Erstaunlich schnell und einfach habe ich einen sehr interessanten Menschen kennengelernt. Anette empfindet das ähnlich. Gerne würde sie mich wieder treffen und zu einem Treffen anderer Business-Netzwerke mitnehmen, in denen sie Mitglied ist. Ich habe ein schlechtes Gewissen; sie kennt ja nicht mal meinen echten Namen. Aber vielleicht heißt Anette auch nicht Anette.
"Eine echte Freundschaft erkenne ich in den ersten fünf Minuten"
Woher kommt es, dass Rosenbaums Internet-Angebot so erfolgreich ist? "Viele junge Menschen konzentrieren sich hauptsächlich auf ihre Karriere und nicht mehr so sehr auf ihre sozialen Kontakte", sagt Dr. Tomas Chamorro-Premuzic, Psychologie-Professor am University College in London: "Sie haben wenig Zeit, Kontakte zu knüpfen – wollen ständig Neues erleben und dabei keine große Verbindlichkeiten eingehen."
Vielen Menschen fehlt es heute an Zeit für reale – nicht virtuelle – soziale Entfaltung. Flüchtige Bekanntschaften, wie man sie bei "Rent-a-friend" mieten kann – ob als Feigenblatt für eine familiäre Feier oder aus echtem Interesse an einer Freundschaft –, werden kaum zu wahren Freundschaften. Diese brauchen Glück, Zeit und intensive Pflege. Ich frage Anette, ob es das gibt, dass eine "Rent-a-friend-Freundschaft" zu einer "echten Freundschaft" wird, eine, für die man nicht mehr bezahlen muss.
Eine schwere, eine persönliche Frage. Anette lächelt. Wie man merkt, ob man zusammenpasst? Sie schnippt mit dem Finger – eine Geste, die ich später vielen Leuten zeigen werde: "Das merke ich in den ersten fünf Minuten. Wenn die Leute nichts für mich sind, trinke ich meinen Drink und gehe wieder!"
*Namen geändert
Lily Martin, 24, studiert Psychologie an der FU Berlin.