Pankaj Mishra analysiert die Welt in seinen Büchern und Essays aus dem Blickwinkel von Ländern, die ehemals Kolonien Europas waren. Beim Thema Daesh hält er diesen breiteren Blickwinkel für dringend nötig, wenn die westlichen Länder nicht immer noch mehr Terror hervorrufen wollen. Terror, den Mishra zufolge etwas ganz anderes antreibt als islamischer Fundamentalismus.

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Frau In McDonalds Burka (Foto: Phillip Toledano)

Nur islamistisch ummantelt: Ein Minderwertigkeitskomplex dem Westen gegenüber und das Verlangen nach seinen Segnungen

(Foto: Phillip Toledano)

fluter: In Kommentaren zu den Anschlägen in Paris war oft zu hören, diese seien ein Angriff auf unsere westliche Lebensweise. Halten Sie das für eine zutreffende Interpretation?

Pankaj Mishra: Auf einem sehr banalen Beschreibungsniveau ist ein Terroranschlag immer ein gewaltsamer Angriff auf die Lebensweise von irgendjemandem –  ob in Paris, in Beirut, in Mumbai oder irgendwo in China. Aber das ist trivial.

Worum geht es stattdessen?

Es ist nie so, dass eine Seite die reine Untadeligkeit für sich beanspruchen kann. Hier die Vernünftigkeit der liberalen Demokratie des Westens, dort der irrationale Islam – über diesen simplifizierenden Gegensatz muss man schon hinausdenken, wenn man das Phänomen verstehen will. Man braucht einen breiteren historischen Blickwinkel.

Und was bekommt man dann in den Blick?

Das Voranschreiten von Kapitalismus und Technologie hat einen tiefen Schnitt durch die Welt gezogen. Viele Regionen, die bei dieser Entwicklung nicht mithalten konnten, sind durch den sehr schmerzhaften Kampf gegangen, einen Platz in dieser globalen Ordnung zu finden. Seit dem frühen 19. Jahrhundert hat sich eine ganze Welle von gewalttätigen Aufständen über die Welt ausgebreitet. Was wir gegenwärtig sehen, ist: Diese Druckwelle erreicht nun Teile der Welt, in denen sie lange nicht zu spüren war.

Sie unterstellen: Den Terroristen geht es gar nicht um die kulturelle Differenz, sondern sie wünschen sich eigentlich, in Wohlstand und Freiheit leben zu können wie die Europäer?

Es ist in der Tat ein großes Problem, dass dem Rest der Welt diese Ideale vermittelt worden sind, die für etliche abgehängte Länder aber kaum noch umsetzbar sind. Dadurch gibt es unglaublich viel gärende Unzufriedenheit und das Verlangen, sich zu ermächtigen. Deswegen zieht es weltweit so viele junge Menschen zu Demagogie und Gewalt. Lesen Sie mal die Schriften der russischen Nihilisten und Anarchisten im 19. Jahrhundert. Da entdecken sie vieles, das sich heute auch in der Ideologie des Islamischen Staats findet. Das ist die große Herausforderung der bevorstehenden Jahrzehnte: Wie werden wir diesem explosiven Verlangen nach einer Mitbestimmung und nach einem Lifestyle gerecht, in dessen Genuss weltweit bisher nur eine kleine Minderheit gekommen ist?

Warum schließen sich dann auch Jugendliche aus der Mittelschicht dem IS an?

In der globalisierten Gesellschaft leben auch viele Menschen der Mittelklasse in einem sonderbaren Klima der Verunsicherung. Alles kann sich jederzeit ändern; Sie können ihren Job verlieren oder bekommen gar keinen mehr. Wir haben es mit einer globalen Krise zu tun, die vor den Grenzen von so genannten Klassen nicht haltmacht. Zudem hat man in der europäischen Geschichte gesehen, dass auch die Mittelschicht zur treibenden Kraft beispielsweise von faschistischen Massenbewegungen werden kann.

Aber da ist doch offenkundig auch religiöser Wahn im Spiel: Die Terroristen verüben Selbstmordanschläge in dem Glauben, durch den „Märtyrertod“ ins Paradies zu kommen.

Die Terroristen benutzen Aspekte der islamischen Tradition, um ihrem desperaten Tun eine Bedeutung zu verleihen – aus einem kompensatorischen kulturellen Stolz heraus. Aber die Religion hält beim IS nur als Ideologie her, die ist kein echter Glaube. Diese nihilistische Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, kommt in den verschiedensten Kulturkreisen vor, etwa auch unter buddhistischen Mönchen in Tibet, die sich öffentlich verbrannt haben. So etwas gehörte nie zur buddhistischen Lehre, aber diese Mönche sind durch buddhistische Vorstellungen motiviert. Und die meisten der IS-Terroristen sind eben in einer islamisch geprägten Umgebung sozialisiert worden, dort bedienen sie sich auch weltanschaulich. In Wirklichkeit bietet ihre Ideologie aber eher eine postmoderne ideologische Collage als eine stimmige Doktrin. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass die Terroristen von Paris statt in die Moschee lieber regelmäßig in Nachtclubs gegangen sind und Alkohol getrunken haben – was nach einer strengen Auslegung des Islams verboten wäre. Diese Zusammenhänge sind zu komplex, als dass wir uns mit Begriffen wie „islamistischer“ Terror zufriedengeben sollten.

Tun wir den Terroristen einen Gefallen, wenn wir sie „islamistisch“ nennen?

Wir nehmen den IS dann tatsächlich genau so wahr, wie er wahrgenommen werden will, und bekräftigen eben jene Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen, die die Terroristen herbeisehnen. Man sollte ihnen diese Legitimation auf keinen Fall geben. Beim IS stehen Zerstörung, Mord und Vergewaltigung im Mittelpunkt der Agenda.

Was wäre denn Ihrer Meinung nach eine angemessene Reaktion der westlichen Staaten auf die Anschläge?

Ihre bisherigen Antworten auf Anschläge waren jedenfalls oft katastrophale Überreaktionen. 9/11 etwa ist von einer relativ kleinen Gruppe von Fanatikern begangen worden. Die hätten durch begrenzte Polizeioperationen viel effizienter ausgeschaltet werden können als durch eine groß angelegte Militäroperation. Dieses kriegerische Vorgehen hat nur noch mehr selbstzerstörerische Leidenschaft entfesselt –  was den westlichen Staaten jetzt zum Verhängnis wird. Die Führer der Arabischen Liga  (Internationale Organisation Arabischer Staaten, Anm. der Redaktion) haben damals gewarnt, der Irak-Krieg würde das Tor zur Hölle öffnen. So könnte man beschreiben, was jetzt passiert ist. Ich denke, die Menschen in den europäischen Ländern und in Amerika sollten ihre Regierungen fragen: Was habt ihr dazu beigetragen, dass es so gekommen ist?

Bisher haben Sie vor allem gesagt, was die westlichen Staaten nicht tun sollen: militärisch überreagieren. Aber was sollen sie tun?

Ich fürchte, die Alternative lautet: zunächst einmal akzeptieren, dass solche Anschläge in den kommenden Jahren ein Problem bleiben werden – und ihnen entgegenwirken durch Polizeimaßnahmen, durch politische Maßnahmen, durch Diplomatie. Den Menschen vermitteln, dass sie eine Zukunft in dieser Welt haben und einen Anteil an ihr bekommen. Und endlich verstehen, dass Krieg nur immer noch mehr Terroristen hervorbringen und zu noch größeren Verhängnissen führen wird.

Sehen Sie Möglichkeiten, durch eine wechselseitige kulturelle Verständigung zwischen Europa und dem Nahen Osten Fortschritte zu erzielen?

Im Grunde gibt es diese Verständigung ja schon. Im Osten wie im Westen möchte der Großteil der Menschen einfach nur ein geregeltes Leben führen. Sie wollen eine Ausbildung, sie wollen sicher zur Arbeit kommen. Es wäre für westliche Regierungen also nicht schwierig, Verbündete in diesen Teilen der Welt zu finden. Aber ich fürchte, wir können derzeit einen Trend zu Extremen beobachten, von allen Seiten.

Die Bürger von Paris haben doch sehr behutsam reagiert und betont, dass sie auch weiterhin nur ihr ganz normales Leben führen wollen: ins Bistro gehen, Musik hören, feiern.

Die Reaktionen und Solidaritätsbekundungen auf den Pariser Straßen waren für mich sehr bewegend. Aber die Eliten scheinen mir in alten Denkmustern gefangen zu sein. Sie sollten begreifen: Die Zeiten, in denen man die Dinge durch diese schiere militärische Gewalt durchsetzen konnte, sind vorbei. Auch die Menschen in Ländern wie Syrien und Irak wissen heute auch, was sie wollen. Man muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

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cms-image-000047574.jpg (Foto: picture-alliance)
(Foto: picture-alliance)

Pankaj Mishra (46) ist Autor und Essayist bei englischsprachigen Publikationen wie der New York Times, der New York Review of Books und dem Guardian. Als Sachbuchautor ist er mit „Butter Chicken in Ludhiana“ bekannt geworden, einer soziologischen Betrachtung der indischen Provinz. In dem Buch „Aus den Ruinen des Empire“ schildert Mishra, wie sich die vom Westen unterworfenen Regionen Asiens intellektuell gegen die Kolonialmächte erhoben. Auf Deutsch sind einige seiner Essays in der Kulturzeitschrift „Lettre International“ erschienen.