Seit der „IS“ deutsche Jugendliche zum Dschihad verführt, ist Buchautor und Psychologe Ahmad Mansour ein gefragter Mann. Im Interview mit fluter.de verrät er, woran man radikale Einstellungen erkennt und wie dann Schlimmeres verhindert werden kann.
fluter.de: Herr Mansour, seit Jahren beraten Sie muslimische und nichtmuslimische Eltern, die sich sorgen, ihre Kinder könnten sich radikalisieren. Was raten Sie ihnen?
Ahmad Mansour: Die Eltern, die bei uns anrufen, haben Zweifel und Ängste, weil sie ihr Kind nicht mehr erreichen. Die Kommunikation in der Familie funktioniert nicht mehr. Viele wissen nicht mehr weiter. Da geht es erst mal darum, ihnen zuzuhören. Wenn wir dann tatsächlich radikale Tendenzen feststellen, überlegen wir gemeinsam mit den Eltern eine Strategie, wie wir die jungen Menschen zurückgewinnen können. Wichtig dabei ist, die Eltern wieder zu Bezugspersonen zu machen, ohne gleich das Thema Religion anzusprechen. Eine gesunde Kommunikation ist die Grundlage dafür, deradikalisierend auf das Kind einwirken zu können. Dahinter steckt oft eine langjährige Arbeit von Berater/-innen und Eltern.
Woran erkennt man Ihrer Erfahrung nach, dass sich ein Jugendlicher radikalisiert?
Auf jeden Fall nicht an der Kleidung oder der Bartlänge. Dafür sind ausführliche Gespräche mit den Jugendlichen notwendig. Ob sie sich radikalisiert haben, erkennt man zum Beispiel an ihrer Rhetorik, an ihrer Argumentation und an ihrem Verhalten dem anderen Geschlecht gegenüber. Wenn Jugendliche andere Lebensstile verteufeln, ihr Umfeld von ihren eigenen Einstellungen überzeugen wollen, wenn sie ihren Alltag komplett nach strengen Regeln zu organisieren beginnen oder selbst ihre Gefühle nur auf Basis der Ideologie leben, dann kann man von radikalen Tendenzen sprechen.
Sie selbst haben sich in Israel von gewaltverherrlichenden Muslimbrüdern faszinieren lassen. Wie schwer ist es für junge Menschen, sich ohne fremde Hilfe wieder von radikalen Gruppierungen zu lösen?
Wenn man einer sektenartigen Gruppierung beitritt, verliert man viele andere soziale Kontakte. Als ich damals bei dieser Gruppe war, hatte ich nur mit diesen Leuten zu tun. Sie waren meine Freunde, meine Brüder. Als ich ausgestiegen bin, ist meine ganze soziale Struktur zusammengebrochen. Oft verhindert die Angst vor genau dieser Situation, dass Jugendliche aussteigen. Dafür brauchen sie Hilfe von außen. Die Motivation zum Ausstieg muss aber von ihnen selbst kommen. Und dafür müssen sie Zweifel an ihrer Gruppierung und Ideologie zulassen und lernen, kritische Fragen zu stellen. Das hängt sehr von der Persönlichkeit ab.
Wie kann man verhindern, dass sich Jugendliche überhaupt von radikalen Botschaften angesprochen fühlen?
Man kann sie immunisieren, indem man ihr kritisches und reflektiertes Denken fördert und ihr Selbstwertgefühl stärkt. Und zwar nicht erst, wenn die Jugendlichen in Kontakt mit radikalen Ideologien gekommen sind, sondern schon viel früher.
Haben sich die Anfragen an Ihre Beratungsstelle „Hayat“ erhöht, seitdem der sogenannte Islamische Staat auch deutsche Jugendliche zum Dschihad verführen konnte?
Seit Sommer 2014 haben wir so viele Anfragen, dass wir sie kaum noch bewältigen können. Damit ist Hayat nicht allein. In manchen Bundesländern gibt es für Beratungsstellen im Bereich Deradikalisierung Wartelisten. Das darf nicht sein. Eine Familie braucht sofortige Unterstützung, wenn der Sohn ausreisen will, um sich dem Dschihad anzuschließen. Ich will aber betonen, dass der IS nur die Spitze des Eisbergs ist. Wir müssen auch die Radikalen erreichen, die mitten unter uns leben, aber unsere gesellschaftlichen Werte ablehnen. Nicht nur diejenigen, die sich dem IS anschließen, sind eine Gefahr für unsere Gesellschaft.
Diese Terrororganisation lebt Gewalt gegen Andersdenkende auf grausame Weise vor. Wie kann es sein, dass die Hassbotschaften auch in demokratischen Gesellschaften verfangen?
Nur ein Teil der Gesellschaft ist für radikale Botschaften empfänglich. Man muss aber auch sehen, dass die Propagandamaschinerie des IS die Terrororganisation nicht nur beim Ausüben von Gewalt zeigt. Sie spricht verschiedene Zielgruppen an. In hochemotionalen Bildern werden zum Beispiel sterbende Kinder gezeigt. Damit spricht sie all diejenigen an, die dem syrischen Volk helfen wollen. Andere reisen aus, weil sie islamisch leben wollen. Der IS verspricht: „Komm her, hier kannst du unter Gleichen leben.“ Das spricht auch Frauen an, die sich für das Tragen der Burka nicht rechtfertigen wollen. Der IS zeichnet ein Opferbild des Islam – als eine Religion, die im Westen unterdrückt wird. Wer den Kampf für einen Islam oder eine Ideologie als legitim empfindet, wer die Werte unserer Gesellschaft ablehnt, abwertet und verteufelt, für den ist der Schritt, Gewalt anzuwenden, nicht mehr so weit weg.
Die IS-Propaganda findet vor allem in den sozialen Medien großen Zuspruch. Angenommen, Innenminister Thomas de Maizière würde Sie mit einer Gegenpropaganda beauftragen, was würde darin vorkommen?
Die meisten Jugendlichen radikalisieren sich durch ihre Bezugspersonen im realen Leben. Das sollte man nicht vergessen. Das Internet ist aber ein Brandbeschleuniger. Auch dort müssen wir Sozialarbeit leisten. Jugendlichen, die sich für den Nahost- oder den Syrienkonflikt interessieren, müssen wir ein Gegennarrativ bieten. Es ist authentisch, wenn Aussteiger, die in der islamistischen Szene aktiv waren, über ihre Erfahrungen sprechen. Es können auch Muslime sein, die sagen: Meine Religion ist anders. Und sie verträgt sich mit dem Grundgesetz dieses Landes. Und natürlich müssen wir die Jugendlichen, die mit der Ideologie des IS vertraut sind, über dessen Lügen aufklären.
Für die Sicherheitsbehörden sind zum Beispiel aus Syrien zurückkehrende Dschihadisten potenzielle Attentäter. Das Innenministerium geht derzeit von 420 Gefährdern aus. Wie soll der Staat mit diesen Personen umgehen?
Diese Personen sind in der Regel hochgefährlich und müssen observiert werden. Das trifft aber nicht auf alle zu, die aus Syrien zurückkehren. Wir müssen auch die Aussteiger und die Traumatisierten wahrnehmen, müssen sie für die Gegenpropaganda verwenden und ihnen bei Bedarf psychologisch und therapeutisch zur Seite stehen.
In Ihrem Buch „Generation Allah“ bezeichnen Sie muslimische Jugendliche, die sich offen über ihre Religion definieren, als mögliche Basis für eine extreme Auslegung des Islam. Stigmatisieren Sie die Jugendlichen damit nicht?
Der Begriff „Generation Allah“ ist nicht nur negativ gemeint. Die Jugendlichen sollen ja auch nicht vom Verfassungsschutz beobachtet oder als radikal abgestempelt werden. Ich spreche von Jugendlichen, die in sich Werte tragen, die problematisch sein können. Auch wenn sie Geschlechtergerechtigkeit ablehnen, antisemitische Einstellungen haben, ihre Religion als ausschließende Ideologie verstehen, an einen bestrafenden Gott glauben und keine Kritik daran zulassen, sind sie dennoch Teil unserer Gesellschaft. Wir müssen sie gewinnen, bevor das die Islamisten tun.
Und wie genau soll das gehen?
Es reicht jedenfalls nicht, dem IS den Krieg zu erklären. Mich stört, dass wir seit Wochen nur von den Ausreisenden und Rückkehrern sprechen. Wir müssen auf die schauen, die anfällig für radikale Botschaften sind und sich von unserer Gesellschaft entfernen. Dafür müssen wir unser Schulsystem reformieren, um die Jugendlichen zur kritischen Reflexion zu erziehen. Und wir brauchen eine Sozialarbeit, die auch im Internet agiert, nicht nur im Jugendzentrum um die Ecke. Und wir brauchen eine nachhaltige Debatte über einen Islam, der radikale Ideologien klar von sich weist. Wenn wir diese Jugendlichen verlieren, wird es hier ungemütlich.
Der Psychologe Ahmad Mansour (39) ist ein bekannter Islamismus-Experte. Der arabische Israeli lebt seit 2004 in Deutschland und engagiert sich Projekten und Initiativen, die Extremismus bekämpfen und Toleranz fördern. Dafür wurde er 2014 mit dem Moses-Mendelssohn-Preis ausgezeichnet. Dieses Jahr erschien sein Buch „Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen“.