fluter: Momentan wird sehr viel über Integration gesprochen und geschrieben. Verstehen wir alle dasselbe darunter? 

Jochen Oltmer: Das glaube ich nicht. Es gibt auch keine wissenschaftliche Definition, die tragfähig wäre. In Deutschland ist damit immer noch oft Anpassung gemeint – oder schlimmer: Eingliederung. Ein Begriff, der aus dem preußischen Militär kommt. Wenn man die Rekruten aufnahm, wurden die in Reih und Glied aufgestellt und uniformiert. Dieses Bild der Gleichmacherei ist heute noch präsent, auch die Vorstellung von Homogenität. Eine Gesellschaft soll homogen sein, um zu funktionieren. Aus diesem Gedanken heraus werden Normen entwickelt, von denen niemand abweichen soll. Es gibt die Vorstellung von einer Art Wertehimmel, der alles überwölkt. Diese Homogenitätsvorstellung ist schon so alt wie der Nationalstaat und leider heute noch ein Riesenproblem in den Debatten. Uns umgibt aber Vielfalt und Heterogenität, und wir haben viele Strategien, jeden Tag damit umzugehen.

Was ist überhaupt die Gesellschaft, in die man sich integrieren soll?

Die gibt es eigentlich auch nicht. Es müsste viel stärker betont werden, dass Menschen an unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft teilhaben und dass das nicht immer mit der gleichen Geschwindigkeit passiert. Manche sind zum Beispiel wunderbar am Arbeitsplatz integriert, haben aber in ihrer Freizeit keinen Kontakt zu Einheimischen. So jemand ist in einen Teil der Gesellschaft integriert, in einen anderen nicht. 

Oft ist auch die Rede von einer Parallelgesellschaft, in der Migranten leben.

Unter diesen Begriff könnte man auch Millionäre fassen – mit ihrem Lebensstil, den ja nur wenige teilen. Es gibt die falsche Vorstellung, dass die deutsche Gesellschaft sehr einheitlich ist und alles, was von außen kommt, ein Problem ist. 

Kann Integration in kurzer Zeit gelingen?

Dieses Ankommen und Akzeptiertwerden ist ein sehr langer Prozess, der Jahre dauert, oft sogar Jahrzehnte. Die erste Einwanderergeneration hat meist große Schwierigkeiten anzukommen. Die Menschen müssen schlechtere Jobs machen als in den Ländern, aus denen sie kommen. Ihre Bildungsabschlüsse werden nicht anerkannt, es kommt zur sogenannten Dequalifikation. Bei ihren Kindern sieht das anders aus, schon weil sie die Bildungseinrichtungen durchlaufen. 

Sind wir ein Einwanderungsland?

Schon lange. Es gab nur so eine Art bewusstes Beschweigen – auch aus der Angst heraus, Wähler zu vergraulen, wenn man darüber spricht. Jahrzehntelang hieß es deswegen: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Deswegen mussten wir nicht darüber reden, was es heißt, wenn man doch eins ist. Als die Gastarbeiter ab den 1950ern kamen, war man sich einig, dass die wieder gehen, und deswegen bestand keine Notwendigkeit, über Integration nachzudenken. Erst 2005 wurde der Bund mit dem Zuwanderungsgesetz aktiv. Bis dahin wurde Integrationspolitik auf kommunaler Ebene gemacht. Große Städte wie München oder Stuttgart haben schon Anfang der 1970er-Jahre Pläne dafür gemacht, Stellen geschaffen, Büros eingerichtet. Der Bund kam erst 30 Jahre später dahin. Da hatte Stuttgart schon längst das Label Integrationsstadt (siehe auch Seite 18).

Nun ist Stuttgart eine wirtschaftlich starke Region. Hat der Zuzug zum Wohlstand beigetragen, oder ist es eher so, dass die Integration dort gut funktioniert, wo Arbeitsplätze sind?

Das bedingt sich gegenseitig sehr stark. Auch wenn es immer schwierig ist, die wirtschaftliche Potenz von Migration zu messen. Nach der Gründung der Bundesrepublik hat die Zuwanderung das sogenannte Wirtschaftswunder forciert. Bis 1949 waren mehr als zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene gekommen, bis zum Mauerbau 1961 kamen noch rund drei Millionen DDR-Flüchtlinge dazu. Das waren zu einem Großteil Menschen mit Ambition. Sie haben früh erkannt, dass sie sich anstrengen müssen, um wieder in eine Position zu kommen, die sie mal hatten. Im Kontext von Migration sehen wir immer wieder, dass ich mich bemühen und vielleicht auch Jobs übernehmen muss, die Einheimische nicht übernehmen wollen. Diese spezifische Motivation trägt dazu bei, dass ein Land Vorteile durch diese Menschen hat.

 

Wie viele Menschen, die einwandern, bleiben eigentlich langfristig?

Zwischen den 1950er-Jahren und 1973 sind rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte gekommen, von denen 11 Millionen wieder zurückgegangen sind. Und selbst bei denen, die geblieben sind, war es in vielen Fällen so, dass die Rückkehr immer wieder aufgeschoben wurde und man sich nie entschied, endgültig zu bleiben. Wenn meine Zukunft aber nicht hier liegt, sind die Bemühungen, an den Entwicklungen des neuen Landes teilzuhaben oder Kontakte zu knüpfen, häufig nur halbherzig. Wenn ich jedoch weiß, dass ich hierbleibe, ist die Motivation eine ganz andere. 

2014 sind knapp 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen …

Und fast eine Million ist gegangen. Migration ist oft ein ständiges Hin und Her. Wir dürfen uns die Entwicklung nicht linear vor
stellen, die Realität ist Dynamik und Bewegung. Man muss auch immer damit rechnen, dass Menschen Integrationsprozesse abbrechen. Es gibt Teilhabe an der Gesellschaft, dann wieder ein Herausfallen, es gibt Rückwanderung, dann wieder Rückkehr. Das alles gehört dazu, wenn man über Integration spricht. Der Prozess ist ergebnisoffen, das müssen wir akzeptieren. 

Ist es nicht genau diese Unsicherheit, die den Menschen Angst macht und Fremdenfeindlichkeit bei uns schafft?

Das ist ja nichts spezifisch Deutsches. Migration wird von vielen als Problemthema verstanden, als Ergebnis von Katastrophen oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Dabei sprechen wir nie über das große Ganze, sondern immer nur über einzelne Phänomene, gerade zum Beispiel über „die“ muslimischen Männer aus Syrien oder Nordafrika. Ende der 90er-Jahre wurde über „die“ Albaner gesprochen, vorher über „die“ Türken. Das große Bild der Migration wird gar nicht wahrgenommen. Es gibt heute in Deutschland zum Beispiel 600.000 Menschen polnischer Herkunft, die meisten sind in den vergangenen Jahren gekommen. Aber niemand spricht darüber.

 

Welche Möglichkeiten hat die Politik, Integration zu fördern?

Ich bin eher skeptisch, was Integrationspolitik angeht. Natürlich muss der Staat einen rechtlichen Rahmen bieten, etwa den Aufenthaltsstatus klären oder Sprachkurse fördern. Aber gerade vom Sprachenlernen wissen wir, dass letztlich die Praxis zählt. Da reichen nicht 600 Stunden am Stück, sondern die Menschen müssen in ihrem Alltag reden, am besten bei der Arbeit, in der Nachbarschaft, in Vereinen. Integration wird vor Ort ausgehandelt. Wenn ich die heutige Diskussion mit der in den 90er-Jahren vergleiche, als viele Flüchtlinge vom Balkan kamen, ist mehr Offenheit da, mehr Bereitschaft, auf Zuwanderer zuzugehen, sie im Alltag zu unterstützen. Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft, die Migration als Normalfall der Existenz anerkennt. Wir können zumindest in Westdeutschland auf Jahrzehnte zurückblicken, in denen Vielfalt gewachsen ist. Dazu kommen unsere eigenen Fremdheitserfahrungen, die man über Reisen oder Auslandsaufenthalte zum Arbeiten oder Studieren macht. Das hat mit zur Öffnung beigetragen. Auch dass die deutsche Fußballnationalmannschaft mit vielen Einwandererkindern die WM gewonnen hat, hat vielen Menschen positive Effekte von Migration vor Augen geführt.

Wie wichtig sind die islamischen Verbände bei der Integration der vielen Muslime, die nun kommen? 

Das sind aus meiner Sicht regelrechte Integrationsagenturen. Wenn etwa bei der Islamkonferenz Vertreter der islamischen Verbände dabei sind, dann ist das bis zum letzten Mitglied der Gemeinde ein Zeichen der Anerkennung. Das heißt für sie: Wir sitzen mit am Tisch und gehören dazu. 

Das hört sich ja ganz so an, als sei Deutschland ein vorbildliches Einwanderungsland.

Es gab schon in den 90er-Jahren Untersuchungen, wie Deutschland im Vergleich etwa zu den Niederlanden, Frankreich oder Belgien dasteht. Im Ergebnis schnitt Deutschland ziemlich gut ab. Integrationsmaßnahmen in den Kommunen waren erfolgreicher als die zentral gesteuerten Programme. Und viele 
deutsche Kommunen haben sehr früh nachgedacht. Frankreich schnitt deutlich schlechter ab, weil eine gewisse nationale Integrationsidee zu einer Homogenitätsvorstellung führte, die der Integration anderer Menschen nicht zuträglich ist. Gerade weil viele Menschen in Deutschland viel kritischer über das Deutschsein nachdenken und Patriotismus eher verpönt war, ist hier vieles besser gelaufen, als wir lange gedacht haben. Ende der 90er-Jahre haben dann auch andere Länder über das „deutsche Modell“ nachgedacht. Also über das Kommunale, das Dezentrale und das Bürgerschaftliche.

Gibt es weltweit Vorbilder für gelungene Integration, nach denen man sich richten kann? In die USA wanderten in den letzten 50 Jahren offiziell 16 Millionen Mexikaner ein.

Klassische Einwanderungsländer wie die USA haben eine ganz andere Vorstellung von Gesellschaft. Sie verstehen sich als heterogene Migrationsgesellschaften, in denen etliche Lebensentwürfe akzeptiert werden. Es gibt einen gewissen Common Sense 
über Werte und Gesetze, aber es ist selbstverständlich, dass die Einwanderer ihre kulturellen Vorstellungen und Herkunftsgemeinschaften pflegen. Da wird ja bei uns schnell von einem Getto gesprochen. Das sind aber oft Schutzräume, in denen das Herkunftskollektiv zusammenlebt und es dennoch gute Verbindungen zur Umgebung gibt, zu Schulen oder Arbeitsstätten. In den USA wird niemand nach seiner Herkunft gefragt. Hier passiert das selbst Menschen, deren Familien seit drei Generationen hier leben. Warum? Da kommt der berühmte Migrationshintergrund ins Spiel, den man selbst dann hat, wenn die Vorfahren schon 1950 nach Deutschland gekommen sind. In Deutschland wird man diesen Status nicht los. In den USA würde niemand auf die Idee kommen, jemanden, dessen Großeltern eingewandert sind, als Migrant zu bezeichnen. Dabei ist dieser Begriff mit bester Absicht erfunden worden, um von dem Gerede vom Ausländer wegzukommen. Jetzt haben wir aber das Problem, dass dieses Label ein lästiges Gepäck ist, das über Generationen vererbt wird.

Können die Flüchtlinge, die nun kommen, die Überalterung unserer Gesellschaft aufhalten?

Da bin ich skeptisch. Demografen haben ausgerechnet, dass bis 2040 rund 150 Millionen Menschen kommen müssten, um die demografische Lücke zu schließen, da man eben davon ausgeht, dass zwei Drittel eh wieder in ihre Heimat gehen. Da fragt man sich schon, woher die alle kommen sollen und wie man überhaupt mit so vielen Einwanderern umgehen kann. 1997 lebten 330.000 Flüchtlinge aus Bosnien hier, 2003 waren davon noch zehn Prozent in Deutschland. Von der Asylzuwanderung der 1990er-Jahre ist so gut wie nichts erhalten geblieben. Nein, die Flüchtlinge werden den Prozess der Alterung nicht aufhalten. Daher benötigen wir eine Diskussion über die Sozialsysteme. Die wurde lange nicht geführt, obwohl wir doch wissen, dass wir Veränderungen brauchen.

Ist es nicht ohnehin so, dass nun angesichts des Zuzugs viele Probleme, die lange nicht angegangen wurden, zur Sprache kommen – etwa der soziale Wohnungsbau oder Frauenrechte?

Ja, da ist die Situation fast so eine Art Katalysator. Nun finden all diese Debatten statt, und das ist ein notwendiger Prozess. Ich finde es wichtig, dass derzeit so intensiv und kontrovers mit-einander gesprochen wird. Woher sollen Gesellschaften sonst Kompetenzen bekommen, wenn nicht durch eine intensive Debatte. Wenn man nicht über die Probleme spricht, passiert gar nichts. 

Wie ist Ihr Ausblick für die nächsten Jahre? Schauen wir 2026 zufrieden zurück auf diese Zeit, in der so viele neue Menschen zu uns kamen?

Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie viele Menschen kommen, wie viele wieder gehen, wie viele gehen müssen. Weil sich aber die Gesellschaft geöffnet hat und wir es absehbar mit einer guten wirtschaftlichen Situation zu tun haben, denke ich, dass es weniger Probleme geben wird, als viele erwarten. Dazu trägt auch bei, dass wir es mit sehr jungen Menschen zu tun haben, und derzeit steigt auch die Zahl von Frauen und Kindern. Das heißt: Die viel diskutierten Familienzusammenführungen finden bereits statt. Und das ist auch wichtig. Wenn die Familie zusammen ist, richtet sich der Blick der Menschen nicht mehr so sehr auf das Herkunftsland. Von daher bin ich relativ optimistisch. Auch wenn es Tendenzen der Abwehr und der Ausgrenzung gibt, habe ich den Eindruck, dass am Ende der auf Integration zielende Teil der Gesellschaft groß genug ist.

Auch ein Job mit Zukunft: Prof. Dr. Jochen Oltmer ist 
einer von wenigen Migrationsforschern in Deutschland. Er lehrt 
als Professor am Institut für Migrationsforschung 
und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück