Das Grundgesetz spricht von zwei Freiheiten: der Freiheit Deutschlands und der Freiheit der in Deutschland Lebenden. Die Freiheit Deutschlands, die nach der Vereinigung und der Wiedergewinnung der Souveränitätsrechte 1990 vollendet wurde, ist die Grundlage für die Freiheit der in Deutschland Lebenden, der Deutschen und der Nichtdeutschen. 

Die Freiheit der Menschen

Im Dienste dieser Freiheit steht das Grundgesetz. Es hat eine "freiheitliche demokratische Grundordnung" errichtet, (in den Worten des Bundesverfassungsgerichts) eine "Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition."

Die Vielfalt der Freiheiten

Kern dieser Grundordnung sind die Menschen- oder Grundrechte, im Wesentlichen niedergeschrieben in den Art. 1-19 GG, aber auch sonst über die Verfassung verstreut. Sie nennen einzelne Lebens- oder Rechtsbereiche, in denen wir "frei", das heißt vor staatlicher Einmischung sicher sein sollen. Beispiele: Religion, Gewissen, Weltanschauung, Meinungen, Presse und Rundfunk, Kunst und Wissenschaft, Familie, Schule, Versammlungen, Vereinigungen, Telekommunikation, Freizügigkeit, Arbeit und Beruf, Wohnung, Eigentum und Erbrecht, Wahlen zum Bundestag. Was nicht von diesen Freiheiten erfasst wird, wird in Gestalt der "freien Entfaltung der Persönlichkeit" garantiert. Manche dieser Freiheiten dienen unserer ganz individuellen und eigennützigen Entfaltung, viele von ihnen schützen unsere "Geselligkeit".

Die Freiheit als Regel, die Schranke als "Ausnahme"

In allem, was wir tun und lassen, sind wir, so sagen die Grundrechte, zunächst einmal und grundsätzlich frei. Unsere Freiheit ist die Regel, die keiner besonderen Rechtfertigung bedarf, weil sie als Regel vom Grundgesetz garantiert ist. Besonderer Rechtfertigung - durch eine Ermächtigung im Grundgesetz - bedarf umgekehrt der Staat, wenn er diese Freiheit beschränken will. 

Diese Ermächtigungen spricht das Grundgesetz - in Gestalt von so genannten Gesetzesvorbehalten - in großem Umfange aus. Das ist verständlich und notwendig: Die Freiheiten so vieler Einzelner auf so engem Raum unter so beschränkten Lebensumständen müssen sich miteinander vertragen, das heißt vor allem aufeinander und auf das Ganze Rücksicht nehmen. Beispiel: Zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört auch das Verkehren auf der öffentlichen Straße. Aber ohne Verkehrsregeln würde von dieser Freiheit wenig übrig bleiben, und diese Regeln kann nur der Staat bereitstellen. Sie beschränken unsere Verkehrsfreiheit, aber sie ordnen und ermöglichen sie auch. Dafür, dass diese notwendigen Regeln nicht zu Fesseln werden, die von der Freiheit nichts übrig lassen, sorgt das ungeschriebene Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Nur soweit unumgänglich, darf unsere Freiheit eingeschränkt werden.

Freiheit und Verfassungspflichten

Obwohl das Grundgesetz weiß und klarstellt, dass es Freiheit ohne Einschränkungen nicht gibt, und deswegen den Gesetzgeber ermächtigt, sie vorzusehen, hält es sich selbst mit der Anordnung von Pflichten auffällig zurück. Art. 5 III 2 GG spricht immerhin von der Treue zur Verfassung, die den Lehrenden obliegt, Art. 6 II 1 GG von der Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen, und Art. 14 II 1 GG davon, dass "Eigentum verpflichtet". Von Weiterem, zum Beispiel einer Pflicht, in Schule und Beruf das Beste aus sich zu machen oder ganz allgemein seine Persönlichkeit zum Besten des Gemeinwohls maximal zu entfalten, von einer Wahlpflicht, von einer Einstandspflicht in Notlagen etcetera ist nicht die Rede. 

Freiheit und Gleichheit

Die in den Grundrechten beschriebenen Freiheiten kommen allen Menschen, gelegentlich - so zum Beispiel die Berufs-, die Versammlungs-, die Vereinigungsfreiheit - nur den deutschen Menschen zu. Darin liegt eine von der Verfassung gewollte - und nicht von allen geliebte - Ungleichheit der Menschen, die auch vom Gleichheitssatz nicht beseitigt wird. Der hilft nur - aber auch immerhin - dazu, dass zum Beispiel allen Deutschen die ihnen garantierte Berufsfreiheit nicht in willkürlich ungleichem Maße gewährt oder vorenthalten wird.

Freiheitsvoraussetzungen

Wenig bewirkt das Grundgesetz, wenn es darum geht, von der Freiheit überhaupt Gebrauch machen zu können. Die Eigentumsfreiheit nutzt wenig, wenn ich kein Eigentum habe; es zu erwerben, hilft mir das Grundgesetz kaum. Die Berufsfreiheit ist für den Arbeitslosen eine vage Verheißung, der Schutz der Wohnung wenig interessant für den Obdachlosen. Für die Grundversorgung (und nur für sie) ist insofern das Sozialstaatsprinzip zuständig (Art. 20 I GG). Die Freiheit der Grundrechte baut auf ihr auf; wo jene fehlt, nützt diese kaum.

Der Grund der Freiheit

Als Grund und Ziel unserer Freiheiten und der staatlichen Verpflichtung auf sie nennt das Grundgesetz die Menschenwürde (Art. 1 I, II GG), nichts anderes (wie zum Beispiel Reichtum) und nichts Höheres (wie zum Beispiel Gott). Jedem Menschen - und nur ihm - kommt eine Würde zu, die sich - wie das Grundgesetz aus der Vergangenheit gelernt hat - ohne Freiheit nicht verwirklichen oder erhalten lässt.

Christian Pestalozza ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität Berlin.