Jedes Jahr gehen mehr Deutsche nach Holland, um zu studieren. Zulassungsfreie Studiengänge und gute Finanzierungsmöglichkeiten locken sie. Aber ist das eine Liebe, die hält, oder nur ein Zwischenstopp auf dem Weg der Bildungsmigranten?
Nachmittags um fünf ist auf den Fahrradwegen auf dem Campus der Nijmegener Universität ziemlicher Verkehr. Breit wie Straßen ziehen sie sich schnurgerade durch die weitläufigen Grünanlagen. Vereinzelte Fußgänger, die sich auf die zweispurigen Hauptverkehrsadern verirren, werden selbstsicher weggeklingelt. Aber zu Fuß ist man auf dem Campus sowieso ziemlich verloren, denn gemessen an der geringen Einwohnerzahl der Stadt ist der Universitätscampus riesig, quasi ein eigener Stadtteil.
Nach Österreich die Nummer zwei
Auch wegen der guten Infrastruktur ist die Stadt, die weniger als zehn Kilometer von der deutschen Grenze entfernt ist, so beliebt bei den deutschen Studenten. Etwa 1.400 sind an der Nijmegener Radboud Universiteit eingeschrieben und haben ihrem Heimatland zumindest für einige Jahre den Rücken gekehrt. Die meisten von ihnen sind hergekommen, weil die Abi-Noten bei der Auswahl des Wunschstudienganges in den Niederlanden keine Rolle spielen oder weil es hier Kombinationsmöglichkeiten und Studiengänge gibt, die in Deutschland keine Uni anbietet: Raumplanung etwa oder Künstliche Intelligenz.
Die Niederlande sind nach Österreich das beliebteste Zielland der Deutschen, wenn es ums Studieren im Ausland geht. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie dort die mit Abstand größte Gruppe der ausländischen Studierenden stellen. Tendenz weiter steigend. Im Studienjahr 2010/11 waren knapp 24.000 Deutsche an niederländischen Universitäten eingeschrieben und dieses Wintersemester dürfte ihre Zahl wegen der doppelten Abiturjahrgänge und der Abschaffung der Wehrpflicht noch höher liegen. Und das Interesse beruht zumeist ganz auf Gegenseitigkeit. Denn für jeden eingeschriebenen Studenten werden die Universitäten von der niederländischen Regierung mit etwa 6.000 Euro unterstützt. In einigen Unis hat man sich auch deshalb schon voll und ganz auf die deutschen Nachbarn eingestellt, in Nijmegen wurde sogar eine deutschsprachige Studienberatung eingerichtet.
Kein Bachelor-Versuchskaninchen
Anna (22) ist eine der vier Studentinnen, die dort jeden Tag die Anfragen aus Deutschland beantworten. Sie kommt eigentlich aus dem nordrhein-westfälischen Rheinberg, studiert in Nijmegen International Business Communication und ist nicht nur von Berufs wegen von ihrer Studienplatzwahl überzeugt: "Das Studium ist sehr gut organisiert hier. Man ist als Bachelor- oder Masterstudent nicht Versuchskaninchen wie in Deutschland, weil es dieses System hier schon viel länger gibt. Die Professoren sind viel zugänglicher als in Deutschland. Man kann sie einfach ansprechen und viele sogar duzen. Man muss nicht stundenlang vor ihrem Büro sitzen, wenn sie Sprechstunde haben. Es fällt manchmal richtig schwer, sich das Siezen abzugewöhnen."
Larissa (22) aus Sprockhövel in NRW weiß die Organisation des Studiums ebenfalls zu schätzen. Sie studiert in Nijmegen Psychologie im dritten Jahr und steht kurz vor ihrem Bachelor. Wie viele andere hätte sie mit ihrem Abi-Schnitt von 2,4 in Deutschland lange auf einen der etwa 3.000 Studienplätze hoffen können. In Holland dagegen ist die Studienplanung einfacher: "Jeder, der hier studiert, bekommt sogar automatisch einen Masterplatz." Auch deshalb ist das Psychologie-Studium bei den deutschen Bildungsmigranten sehr beliebt: "Fast die Hälfte der Psychologie-Studenten hier sind Deutsche." Das macht es nicht leichter, Kontakte zum Nachbarn zu knüpfen, sehr viele holländische Freunde hat sie nicht: "Es ist nicht so einfach wie mit den Deutschen, Freundschaften aufzubauen."
Auch Anna hat nicht nur gute Erfahrungen in Nijmegen gemacht: "Man wird hier zwar wirklich mit offenen Armen empfangen, aber es kam auch schon mal vor, dass ich von Kommilitonen angemacht wurde, warum ich Geld vom niederländischen Staat nehmen würde."
Ganz aus dem Blauen kommt dieser Vorwurf nicht. Zwar zahlt die niederländische Regierung den Zuschuss zu den Studiengebühren an die Universitäten seit Herbst 2010 nur noch für Studenten, die ihren Erstwohnsitz in den Niederlanden oder in den Bundesländern NRW, Niedersachsen oder Bremen angemeldet haben. Alle anderen müssen das Instellingscollegegeld, das jede Uni selbst festlegt, ganz allein aufbringen. Allerdings fordern einige niederländische Politiker mittlerweile trotzdem, dass die Herkunftsländer der Studenten für die Studienkosten aufkommen.
Noch aber sind die Finanzierungsmöglichkeiten gut: Zwar belaufen sich die Studiengebühren auch mit dem Zuschuss noch auf jährlich etwa 1.700 Euro und die Lebenshaltungskosten sind ähnlich hoch wie in Deutschland. Aber zum einen kann man ganz normal eine Unterstützung beim BAföG-Amt beantragen und zum anderen bieten auch die Niederlande eine Studienförderung für diejenigen an, die nebenher noch arbeiten.
Die niederländische Sprache als Grundvoraussetzung
Nils (21) aus Köln hat noch einen Tipp zum Geldsparen: Er fährt zum Einkaufen nach Deutschland. Ursprünglich hatte er sich in Nijmegen für Unternehmenskommunikation eingeschrieben, studiert aber seit diesem Semester Politikwissenschaft: "Dass ich hergekommen bin, war eine Bauchentscheidung", sagt er und lacht. "Das Bier ist zwar nicht besonders, aber die Studienbedingungen sind super und wer hier anfängt, bleibt meistens auch hier."
Das liegt auch daran, dass die meisten Studiengänge auf Niederländisch angeboten werden und die Neuankömmlinge aus Deutschland deshalb zuerst einmal einen mehrwöchigen Sprachkurs absolvieren müssen, bevor sie mit dem Studium beginnen dürfen. "Da muss man ganz schön ran", erzählt Anna, "aber wenn man den absolviert hat, ist es kein Problem, auf Niederländisch zu studieren. Es ist dem Deutschen so ähnlich, dass das wirklich gut geht. Die meisten Deutschen ziehen das Studium hier dann auch ziemlich zielstrebig durch. Sie wollen die Sprache nicht umsonst gelernt haben."
Also auch ein Studienplatz in den Niederlanden ist nicht immer so ohne Weiteres zu haben. Darüber hinaus sollte man sich vorher genau informieren, ob das gewählte Studienfach auch wirklich für den Wunschberuf qualifiziert. Während Auslandserfahrung bei BWL-Absolventen im Lebenslauf gut ankommt, macht ein Jura- oder Lehramtsstudium im Ausland und in einer fremden Sprache weniger Sinn. Fredi Lang vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) beispielsweise sieht in einem Psychologiestudium in Holland kein Problem, gibt aber zu bedenken: "Nicht mit jedem Master kann man in Deutschland Psychotherapeut werden. Neben der inhaltlichen Ausrichtung sind manche holländischen Masterprogramme zu kurz und sehen kein Praktikum vor, was bei der Weiterqualifikation in Deutschland zum Problem wird. Da sollte man sich vorher genau informieren."
Kleine Häuser, große Chancen
Und nicht nur da steckt der Teufel im Detail. Neben den Universiteiten gibt es auch die vielen Hogescholen, die gern mit den deutschen Fachhochschulen gleichgesetzt werden. Der Vergleich hinkt allerdings, denn die Studiengänge dort sind viel praxisorientierter und die Dozenten oft nicht promoviert. Außerdem sind die Abschlüsse der Hogescholen, auch wenn diese oft den Titel University of Applied Sciences tragen, denen der Universitäten nicht gleichgesetzt. So erwirbt man dort beispielsweise nicht den international anerkannten Bachelor of Arts, sondern stattdessen einen Bachelor of Applied Arts, der nicht ohne Weiteres zu einem Master an einer Universität berechtigt. Weder in den Niederlanden noch in Deutschland.
Die wenigsten Deutschen gehen für ihr Studium aus Liebe zum Nachbarn in die Niederlande. Und die wenigsten bleiben nach ihrem Studium dort. Auch Larissa schließt ein Leben in Holland zwar nicht vollkommen aus, will aber nach dem Master erst mal ganz woanders hin, um ihren Doktor zu machen. Außerdem vermisst sie das deutsche Brot. Nils will auf jeden Fall noch mal nach Berlin, mal Studieren in Deutschland ausprobieren. Und Anna kann zwar die niederländische Nationalhymne singen und will sich für ihre Zukunft nicht festlegen, aber auch für sie sind breite Fahrradwege nicht alles: "Falls ich in Holland ein Haus bauen sollte, dann auf jeden Fall nicht so eines wie die Niederländer: Die sind einfach zu klein."
Sarah Lotz ist Volontärin der Bundeszentrale für politische Bildung