"Hallo, hier spricht John Harding von WebEx Communications. Ich würde Ihnen gerne einen Termin für ein Telefonat mit unserem Verkaufsleiter anbieten, damit Sie in Zukunft von unseren Produkten profitieren können. Hätten Sie in der nächsten Woche Zeit für ein Gespräch?" Diese Begrüßungsfloskel leiert Ryan Ahfoo immer wieder herunter, wenn er bei den IT-Direktoren von New Yorker Unternehmen anruft. Der 22-jährige arbeitet als Telefonkontakter im Auftrag der amerikanischen Firma WebEx, die Software für Web-Konferenzen vertreibt, mit deren Hilfe Businessverhandlungen über mehrere Erdteile hinweg im virtuellen Raum stattfinden können.
Über zehntausende von Kilometern hinweg kommuniziert auch Ryan. Sein Arbeitsplatz befindet sich in einem verspiegelten Gebäude im Salt Lake Electronic Complex von Kalkutta. Das Callcenter ist mit über 500 Angestellten eines der personalstärksten in der zweitgrößten Metropole Indien. Neben den Philippinen und Malaysia profitiert das Riesenland vom Offshoring-Trend westlicher Banken, Fluggesellschaften und Computerfirmen, die in Indien telefonieren, Software entwickeln oder die Buchhaltung machen lassen. Analysten der Deutschen Bank Research haben in einer Studie aus dem vergangenen Jahr prophezeit, dass sich der Offshoring-Umsatz Indiens bis 2007 auf 56 Milliarden US-Dollar verdoppeln wird. Erst kürzlich hat der amerikanische PC-Hersteller Dell angekündigt, die Zahl seiner Callcenter-Mitarbeiter auf dem Subkontinent von 10.000 auf 15.000 zu erhöhen. Der Grund hierfür ist einfach: durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Indien sollen Unternehmen Analysten zufolge zwischen 40 und 50 Prozent Kosten sparen können.
Lange Nächte
Wegen der Zeitverschiebung zwischen seinem Heimatland und dem seiner potenziellen Kunden fängt Ryans Job dann an, wenn andere längst zu Hause vor dem Fernseher sitzen. Um 20.30 Uhr indischer Zeit setzt er sein Headset auf und wählt die erste Nummer, um 5.30 Uhr endet seine Arbeitsnacht. An diesen Lebensrhythmus hat er sich schnell gewöhnt, es stört ihn auch nicht, dass er an indischen Feiertagen ins Büro muss und an amerikanischen frei hat.
Ryan findet seinen Job "okay", weil er während der Arbeit Radio hören, mit seinen Kollegen herumwitzeln und Kaffee- und Zigarettenpausen machen kann. Begonnen hat seine Karriere im Callcenter vor drei Jahren. "Bevor ich zum ersten Mal mit den Kunden sprechen durfte, musste ich eine etwa einmonatige Ausbildung machen", erinnert er sich, "Englisch ist zwar meine Muttersprache, aber ich musste mir einen amerikanischen Akzent antrainieren. Das hat knapp zwei Wochen gedauert. In der restlichen Zeit haben wir dann viel über die amerikanische Geografie, Kultur und Politik gelernt." Nach der Ausbildung sollen sich die Callcenter-Angestellten in die Psyche der US-Bürger hineinversetzen können und verschiedene Small-Talk-Strategien beherrschen. Um sich gegebenenfalls auch über das Wetter in North Carolina, den vergangenen Spieltag der National Football League oder den Politbetrieb in Washington DC unterhalten zu können, müssen sie sich darüber regelmäßig auf den Internetseiten amerikanischer Medien informieren.
Eine der obersten Prämissen für die Callcenter Agents ist es, ihre Herkunft zu verschleiern. Bei einem "Business-to-Business"-Job, wie er ihn gerade mache, sei das aber weniger wichtig als bei einem "Business-to-Consumer"-Job, erzählt Ryan: "Wenn ich mit Geschäftsleuten telefoniere, wissen oder ahnen die in der Regel, dass ich aus Indien anrufe. Denen ist das auch egal, weil für sie nur die Firma zählt, in deren Auftrag ich mich melde. Wenn ich jedoch mit Privatpersonen telefoniere und sie zum Beispiel zum Wechsel ihres Stromversorgers überreden möchte, dürfen die nicht merken, wo ich sitze. Sonst werden sie misstrauisch oder sogar wütend." Einige seiner Kollegen seien am Telefon bereits übel beschimpft worden, weil sie Amerikanern die Arbeitsplätze wegnähmen. Um solche Situationen zu vermeiden, müssen sich die Callcenter Agents nach ihrer Ausbildung Pseudonymnamen wie Jack White oder Nick Carter zulegen, die in den Ohren von Amerikanern angenehm vertraut klingen sollen.
Abzocke und Provisionen
Ryan hat sich für das Alter Ego John Harding entschieden: "Am Telefon bin ich eine komplett andere Person. Ich muss meine Identität ändern so wie ein Schauspieler. Ich muss mit den Menschen am anderen Ende der Leitung flirten und ihr Vertrauen gewinnen." Denn wer Vertrauen zu dem Anrufer gefasst hat, ist er eher bereit, ihm auch sensible Daten wie die Kontonummer preiszugeben. Ryan musste seinen Gesprächspartnern in der Vergangenheit auch schon eine Pseudo-Kreditkarte für über 300 Dollar aufschwatzen. Obwohl im US-Fernsehen Hinweisspots liefen, die vor der Telemarketing-Abzocke warnten, seien erstaunlich viele Amerikaner auf seine Überredungskünste reingefallen, wundert er sich noch heute. "Am Anfang hab ich ein schlechtes Gewissen gehabt, aber ich musste ja schließlich Geld verdienen. Wenn ich Mitleid mit den Leuten habe, kann ich in diesem Geschäft nie überleben. Aber mittlerweile arbeite ich nur noch für seriöse Kampagnen."
Bei seinem derzeitigen Job für das Software-Unternehmen WebEx erhält Ryan für jeden Termin, den er ausgehandelt hat, eine Provision. Insgesamt verdient er im Monat rund 11.000 indische Rupien, umgerechnet ca. 210 Euro. In Kalkutta könne man als Callcenter Agent gut leben, sagt er. Vom Boom der Telefonjobs profitieren vor allem die hoch qualifizierten Inder unter 30 Jahren. Sie bilden die urbane Mittelschicht, die sich dank des hohen Wirtschaftswachstums rasant entwickelt. Die indische Regierung schätzt, dass der Bedarf nach gut ausgebildeten Callcenter-Mitarbeitern bis 2009 auf eine Million steigen wird.
John Harding "um die Ecke bringen"
Gewerkschaften kritisieren die Anbieter der Telefonjobs allerdings immer wieder dafür, dass ihre Angestellten unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen und nur über wenig soziale Sicherheit verfügen. Ryan zum Beispiel ist nicht krankenversichert und kann bei nachlassender Leistung jederzeit gefeuert werden. Sein Freund David Xavier hat seinen Job im Callcenter vor kurzem nach knapp fünf Jahren gekündigt. Der 42-jährige hat sich von seinen Arbeitgebern aus dem Westen ausgebeutet gefühlt. "In Amerika erhalten die Leute für die gleiche Tätigkeit wesentlich mehr Geld. Ich verfüge über viel Berufserfahrung, gute Sprachkenntnisse und das Talent, Menschen am Telefon zu überreden. Und bei meinem letzten Vorstellungsgespräch wollten sie mir trotzdem nur 15.000 Rupien geben."
David glaubt, dass Jobs im Callcenter vor allem für Menschen unter 25 noch wirklich attraktiv sind. Ryan sehnt sich jedoch bereits mit 22 nach mehr Sicherheit. Er würde gern für eine Bank arbeiten, sagt er. Dann könnte er auch endlich sein Alter Ego John Harding "um die Ecke bringen". Im Gegensatz zu manch einem Arbeitskollegen besteht Ryan nämlich nicht voller Stolz darauf, auch von seiner Familie und seinen Freunden mit seinem Zweitnamen angesprochen zu werden.
Frederik Kunth arbeitet für Magazine und das Radio. Er lebt in München.