Die ganze Nation hatte für die Rückkehr des Fußball-Heilands gebetet, und als Diego Armando Maradona im ersten Spiel der argentinischen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 1994 in den USA gegen Griechenland gleich traf, wirkte es tatsächlich, als hätte der Superstar endgültig die irdischen Gefilde verlassen. Mit einer ungeheuren Wucht hatte der sonst eher filigrane Techniker den Ball ins Tor gejagt, noch unheimlicher aber war sein Jubel. Er rannte mit weit aufgerissenem Mund auf die Fernsehkameras zu, wobei die Augen aus ihren Höhlen zu springen schienen. Die Erdung des Genies folgte bald. Beim Dopingtest nach dem zweiten Vorrundenspiel wurden unter anderem Ephedrin-Spuren festgestellt. Maradona war schon wenige Jahre zuvor mit Kokain erwischt worden, doch jetzt war seine Karriere de facto beendet. Bis heute ist es wohl der bekannteste Dopingfall im Profifußball.
Dabei, jedenfalls sprechen dafür die Indizien, muss es viel mehr Fälle gegeben haben. Über vielen großen Namen des Weltfußballs hängt die dunkle Wolke Doping – Zinédine Zidane, Pep Guardiola, Joachim Löw, um nur einige zu nennen –, doch bewiesen ist fast nichts. Und noch immer pflegt der Fußball sein Image des sauberen Sports.
Weil es eben nicht nur auf Ausdauer, Schnelligkeit und Durchhaltevermögen ankomme, so die gängige Argumentation, sondern vor allem auf die technische Fertigkeit, auf die Taktik und die sogenannte mentale Stärke, würde Doping im Fußball auch gar nicht viel bringen. Trotzdem hat jeder Profiverein mittlerweile eine personell, technisch und pharmakologisch bestens ausgestattete medizinische Abteilung. Und die spielte schon bei der modernen deutschen Heldensage des „Wunders von Bern“ 1954 eine nicht unerhebliche und von vielen als höchst zweifelhaft angesehene Rolle.
„Stärkungschemie“, so schrieb Schumacher, sei unter seinen Kollegen weit verbreitet gewesen
Die Studie „Doping in Deutschland von 1950 bis heute“ von 2013 entfachte von Neuem die Gerüchte, die es um das Team von Sepp Herberger schon lange gegeben hatte. Einige der Spieler waren damals auf einmal an Gelbsucht erkrankt, der Ersatzmann Richard Herrmann starb sogar später daran. Warum? Fest steht, dass mehrere Spieler in der Schweiz gespritzt wurden. Möglicherweise mit dem Aufputschmittel Pervitin, doch das ist nicht bewiesen. Die späteren Weltmeister behaupten stets, in den Spritzen sei nichts anderes als Traubenzucker gewesen.
In die deutsche Öffentlichkeit kam das Thema erst 1987 mit dem Enthüllungsbuch „Anpfiff“ des Nationaltorhüters Toni Schumacher. „Stärkungschemie“, so schrieb Schumacher, sei unter seinen Kollegen weit verbreitet gewesen: „Es kam mir schon seltsam vor, dass sich kerngesunde Menschen derartig mit Medikamenten vollstopften.“ Toni Schumacher verlor nach dem Erscheinen des Buchs seine Jobs in der Nationalmannschaft und beim 1. FC Köln.
Im vergangenen Jahr hatte es Hinweise gegeben, dass es bei den Vereinen SC Freiburg und VfB Stuttgart in den 70er- und 80er-Jahren systematisches Doping gab. Im Mittelpunkt: der Freiburger Mediziner Armin Klümper. Eine Kommission, die sich mit der Doping-Vergangenheit der Uni Freiburg beschäftigt hat, hat offenbar Belege dafür gefunden, dass bei den beiden Klubs Anabolika verabreicht worden sind. Zu Klümpers zahlreichen Patienten aus dem Sport gehörte auch die Siebenkämpferin Birgit Dressel, die 1987 an Multiorganversagen als Folge eines toxisch-allergischen Schocks starb und in den beiden Jahren vor ihrem Tod mehr als 100 verschiedene Medikamente, darunter auch Anabolika, eingenommen haben soll. Im „Aktuellen Sportstudio“ sagte der heutige Bundestrainer und ehemalige Freiburg-Spieler Joachim Löw, dass auch er bei Klümper in Behandlung gewesen sei, dort aber nicht wissentlich gedopt habe. Dennoch: „Es gab keine Verbote, und es gab auch keine Dopingkontrollen, das Bewusstsein war nicht vorhanden.“
„Würde ich reden, würde die spanische Nationalmannschaft ihren WM-Titel 2010 abgeben müssen“
Pillen, Spritzen und Kuren – davon berichten auch Spieler von legendären Mannschaften wie Juventus Turin in den 60er-Jahren, Ajax Amsterdam in den 70ern und noch einmal Turin in den 90ern. Wahre Wundermittel hätten ihnen die Ärzte verabreicht. Eine große Studie des europäischen Verbandes UEFA ergab, dass bei den Urinproben von 879 Spitzenfußballern aus den Jahren 2008 bis 2013 in 7,7 Prozent der Fälle erhöhte Testosteronwerte festgestellt wurden. Die Spieler blieben anonym.
Passiert ist auch sonst fast nie etwas. Riccardo Agricola, Teamarzt von Juventus in den 90ern, wurde zunächst schuldig gesprochen, das Blutdopingmittel EPO an Spieler seiner Mannschaft verabreicht zu haben – zu der gehörten Stars wie Zinédine Zidane, Alessandro Del Piero und Didier Deschamps. Später hob das Gericht das Urteil auf, Agricola behielt seinen Job. Pep Guardiola war neben den Niederländern Jaap Stam, Edgar Davids und Frank de Boer einer der vielen Spieler, die in den frühen 2000ern wegen Missbrauchs des Steroids Nandrolon gesperrt wurden. Guardiola und de Boer genießen als Trainer heute höchsten Respekt in der Branche.
Und was ist mit den größten Klubs des Fußballs, dem FC Barcelona und Real Madrid? Eufemiano Fuentes, der Arzt, der im Radsport ein dichtes Doping-Netzwerk geknüpft hatte, soll in der Haft gegenüber einem Mitgefangenen behauptet haben, mit den Vereinen zusammengearbeitet zu haben. Später widerrief er diese Aussage zwar, nur um dann zu sagen: „Würde ich reden, würde die spanische Nationalmannschaft ihren WM-Titel 2010 abgeben müssen.“ Das würde er aber nicht tun, um nicht sein Leben aufs Spiel zu setzen – er habe mehrfach Todesdrohungen erhalten. Ein Gericht schlug sein Angebot aus, die Namen seiner Klienten außerhalb des Radsports zu nennen, und ordnete die Zerstörung der bei ihm gefundenen Beutel mit Plasma und Blut sowie ihrer Dokumentation an. Mehrere Sport- und Antidoping-Verbände gingen dagegen vor, das Berufungsurteil zieht sich hin.
Jetzt, zu Beginn der Europameisterschaft, taucht die Dopingwolke wieder auf
In der Multimilliarden-Industrie Fußball scheinen wenige ernsthaft an Aufklärung interessiert zu sein. Das zeigt sich auch beim diesjährigen Sensationsmeister der englischen Premier League: Leicester City. Viel wurde darüber berichtet, dass der Titelgewinn des letztjährigen Abstiegskandidaten wie Balsam auf die Seele der geschundenen Fußballromantiker wirke. Meistens wurde vergessen, dass Leicester City nur einen Monat zuvor im Mittelpunkt einer Dopingaffäre stand. Der Gynäkologe Mark Bonar hatte vor der versteckten Kamera der „Sunday Times“ und einem von der ARD/WDR-Dopingredaktion eingesetzten Lockvogel behauptet, über mehrere Jahre mehr als 150 Profisportler gedopt zu haben – darunter Spieler von Chelsea, Arsenal und Leicester City. Bonar ruderte später zurück, die Vereine widersprachen den Vorwürfen vehement, Beweise gab es keine. Merkwürdig ist nur, wie schnell das Interesse an der eigentlich alarmierenden Geschichte wieder verebbt ist und dass auch kein Offizieller der nicht betroffenen Vereine lautstark über Wettbewerbsverzerrung klagte.
Jetzt, zu Beginn der Europameisterschaft, taucht die Dopingwolke wieder auf. Wie die ARD/WDR-Dopingredaktion berichtet, soll sich in Russland systematisches Doping nicht auf die Leichtathletik beschränken. Sportminister Witali Mutko soll persönlich dafür gesorgt haben, dass ein Dopingfall beim Erstligaklub FK Krasnodar vertuscht wurde. Ob sich das auf die Einschaltquoten des Megaevents negativ auswirkt, darf bezweifelt werden. Auch die Fans scheinen – von Bern bis Leicester – lieber an Wunder glauben zu wollen, als sich ihre Liebe zum „schönen Spiel“ beschmutzen zu lassen.