Die Entlassung kam über Nacht. „Wir müssen ein Drittel der Leute ausstellen, Klaus“, sagte der Chef. „Tut mir leid. Es geht nicht mehr. Du weißt schon, die schlechten Geschäfte und so. Aber du bist ein Guter, du findest gleich wieder was.“ Klaus Tismer, ansonsten wirklich nicht auf den Mund gefallen, war platt. Er drehte sich um und ging. Begriff gar nicht, was da gerade passiert war. Dass er soeben Richtung Hartz IV geschoben worden war.
Vor zwei Jahren
Wie hätte er auch die Tragweite dieser Entlassung absehen können? Er hatte schon öfter den Job quittieren müssen, er hatte Phasen der Arbeitslosigkeit gehabt, sogar schon Arbeitslosengeld bekommen – was machte das schon? Gute Verkäufer für „weiße Ware“ brauchte man in Berlin immer. Er war gerade mal Anfang 40, fühlte sich prächtig und war im Beruf ein Ass: Waschmaschinen, Kühlschränke, Einbauküchen – Herrschaften, was brauchen Sie, ich hab da was für Sie. Und zack, kauften die Leute. Einer wie er war eine Art Geldmaschine für den Chef. Er sackte die dicken Provisionen ein, er hatte sie auch verdient. Klaus Tismers Fehltage in gut 20 Jahren Arbeit konnte man an zwei Händen abzählen. Auf den Tismer war Verlass.
„Ich hatte nie gedacht, dass ich mal länger ohne Arbeit sein würde“, sagt er. Klaus Tismer zieht Bilanz: „Die letzten eineinhalb Jahre waren verdammt hart. Ist keine Woche vergangen, in der Dani und ich nicht darüber geredet haben, wie beschissen es uns geht. Nein, wir haben seit der Entlassung keinen einzigen glücklichen Tag gehabt.“ Er bleibt eine kleine Weile stumm. Dann gibt er sich einen Ruck: „Na ja, aber immerhin haben wir schöne Momente gehabt – mit den Kindern und so. Geheiratet haben Dani und ich auch. Wenn ich es recht bedenke, dann waren es doch ganz schön viele Momente. Wenn wir uns mal richtig dreckig fühlen, erinnern wir uns daran. Und dann geht es schon wieder. Irgendwie.“
Er sitzt im klitzekleinen Vorgarten seiner Mietwohnung in Berlin-Marienfelde, raucht, als wäre es seine letzte Zigarette. Tismer, 43, ist blass, obwohl die Sonne in diesem Sommer oft geschienen hat. Charleen, 6, seine ältere Tochter, wird von Minute zu Minute wilder. „Jetzt kommt ihre Zeit“, sagt Tismer. „Da hat sie ein, zwei Stunden den Teufel im Leib. Dann legt sich das wieder. Das ist dieses ADS.“ Gott sei Dank, sagt er und sieht sehr müde aus, gebe es da noch die kleine Amy. „Die kannste hinsetzen, wo du willst. Die stellt nichts an.“ Nächste Zigarette. Wie er sich im Allgemeinen so fühlt? Ob es ihm gut geht? „Na ja, gut ist übertrieben. Wir schlagen uns so durch. Hartz IV eben.“
Neujahr 2009
Ja, wie sieht so etwas aus, wenn sich eine Hartz-IV-Familie, die nicht untergehen will, so durchschlägt? Rückblick: Zu Neujahr 2009 lassen’s die Tismers trotz der erneuten Entlassung ein wenig krachen. Silvester hat was Tröstliches: Man hat einen Anlass zu trügerischer Sorglosigkeit. „Allet Jute für ’t Neue“, rufen Nachbarn rüber und winken mit der Sektpulle. Alles Gute? Man wird sehen. Im Februar hat Dani Geburtstag. 33 wird sie, ihr Mann schenkt ihr ein Handy, für das man zusammengelegt hat. Dani sagt: „Es kann nur besser werden.“ Im Juni 2009 wird Klaus 42. Dani schenkt ihm eine Hollywoodschaukel (Sonderangebot vom Bauhaus). So richtig fröhlich ist Klaus dennoch an diesem Tag nicht. Obwohl Charleen ziemlich brav ist.
Ein gutes halbes Jahr ist er jetzt ohne Arbeit. Zu Beginn hat Klaus für die Gesuche noch teure Mappen gekauft. Doch er bekommt ja nur ganz selten Antworten – und wenn, dann Absagen. Jetzt bewirbt er sich per E-Mail. Zwischendurch hat er sich als Kneipier versucht. „Fitzefatze“ hieß die winzige Pinte. Lief anfangs gut, aber er konnte nicht so recht „mit den vielen Psychopathen, die da abgehangen sind“.
Frühling 2009
Noch einmal eine Stelle als Verkäufer. Wieder gekündigt. Und diese Schulungen vom Arbeitsamt. Computer und so ’n Kram. Den Stoff kannte er schon, die Kolleginnen und Kollegen gingen ihm auf den Wecker. Da rücken sie um sieben Uhr morgens an und haben verquollene Gesichter. Lachen ist nicht, in der Klasse riecht es nach Alkohol, Zigaretten, Schweiß und Nicht- Gewaschen. Der Lehrer hat keinen Bock, und die Schüler wachen kurz vor der Rauchpause auf. Dann stehen sie sich im Hinterhof die Füße platt und quatschen über die Hertha BSC und „Deutschland sucht den Superstar“ und den aussichtsreichsten Kandidaten bei „Big Brother“. Nee, das hat ihn nicht weitergebracht. Tismer hat nur den Hauptschulabschluss, aber im Kopf war er immer ein Flinker. Er mag’s nicht, wenn nichts weitergeht.
Die Barbiepuppe reißt ein Loch in die Haushaltskasse
Und jetzt? Nüscht mehr. Er hält sich wacker, kümmert sich um die Kinder, führt den Hund aus – aber er wiegt zu viel, raucht zu viel und kann wegen der Knie keinen Sport mehr treiben. Er tröstet sich damit, dass ihm wenigstens noch der Humor geblieben ist. Doch die Realität lässt sich nicht weglachen: 1400 Euro in toto pro Monat für zwei Erwachsene, zwei Kinder, einen Hund und eine Katze. Die 80 Quadratmeter in Berlin-Marienfelde kosten 650 Euro. Haushaltsbudget? „Ach was, wir müssen generell jeden Monat irgendwas schieben, ’nen Haushaltsplan machen wir nicht mehr“, sagt Klaus, von einem Tag auf den anderen ein Mensch zweiter Klasse. „Vor Kurzem waren wir im Zoo – als ich da wegen der Ermäßigung meinen Hartz-IV-Ausweis an der Kasse vorlegen musste, das war schon bitter.“
Oktober 2009
Im Oktober 2009 kommt wieder mal ein Jobangebot. Klaus juckelt nach Hohenschönhausen. Sechs Tage die Woche Arbeit, Stundenlohn drei Euro und ein paar Zerquetschte. Macht netto rund 800 im Monat. Wo die Dauerkarte mit der S-Bahn schon über hundert kostet. Da kann er auch gleich zu Hause bleiben. Ein paar Tage später steht sich Klaus im Jobcenter die Füße platt. Ein Mann mit einem müden Gesicht inmitten von entmutigten, wütenden Menschen. „Würde mich nicht wundern, wenn hier mal einer mit ’ner Bombe reinmarschieren täte.“
Mehr sagt Klaus nicht. Aber er wirkt in seiner Ruhe unheimlich. Wie hält der Mann den Druck nur aus? Letztes Weihnachten schenken die Tismers Tochter Charleen eine Barbiepuppe. Teuer, sehr teuer, sie reißt ein dunkles Loch in die Haushaltskasse. Aber das Kind freut sich ja so doll. Das macht alles wett. Heiligabend nimmt Tismer seine Dani in die Arme. Er sagt: „Das wird wohl nichts mehr mit dem Verkäufer. Jetzt nehme ich jede Arbeit, die kommt. Ich brauche das.“
Sommer 2010
Ein knappes Dreivierteljahr ist das jetzt her. Klaus Tismer sitzt im Vorgarten und erinnert sich daran, wie alles anfing mit der Arbeit. „Als Junge wollte ich immer Spaß haben, auf der Straße bolzen, Wilmersdorf unsicher machen. Was halt die Lauser für Dinger drehen. Ordentlich Geld wollte ich verdienen.“ Als die Schulzeit zu Ende ging, machte er einen Test bei der Post. Er war ziemlich vorwitzig und hatte eine große Klappe. Also, der Test: Alles lief gut, eine letzte Aufgabe, lächerlich leicht. Er guckte sich den Fragebogen an und sagte zum Tester, das sei wohl nicht dessen Ernst, ihn mit so einem Kinderkram zu behelligen. Ist aufgestanden und gegangen. Hat sich einen Job in einem Kaufhaus besorgt. Nicht mal förmlich beworben hat er sich. Ist einfach hin, hat gefragt, ist sofort genommen worden. Wegen der großen Klappe, klar. Der Tismer konnte den Eskimos Eismaschinen andrehen.
Drei Verkäuferstellen waren damals frei: Autozubehör. Hobby-Heimwerker. Elektrogeräte. Keine Frage – er nahm den Job, in dem es die größten Provisionen gab. Richtig gut hat er damit verdient. Hat die Provisionen mit den zwei älteren Kollegen in einen Topf geworfen, dann gab es keinen Knatsch. „Ich mag das: den Kunden was verkaufen. Da mache ich das, was ich am besten kann – ich quatsche. Ich habe richtig viel verdient, ich habe das meiste auf den Kopf gehauen. Ich war mal wer.“
Nach den Kaufhäusern kamen die Discounter. War auch nicht so übel. Da musste er nicht mehr den Immerfreundlichen mimen, konnte die Kunden auch mal anblaffen. Denn er, Klaus Tismer, hatte die Argumente für sich. Er war der Billigste. Verkaufte und verkaufte und verkaufte. Und merkte nicht, was auf ihn zukam. Dann die Kündigung. Kein Arbeitslosengeld mehr. Stattdessen das neue Leben der Tismers.
Klaus vergisst das Rauchen. Asche fällt auf die Terrasse. Er erzählt, wie er vor wenigen Wochen, zur WM-Zeit, am Potsdamer Platz als Verkäufer aushelfen sollte. Jeden Tag von zehn Uhr abends bis Mitternacht. Zwei Stunden, kaum Kunden, kein nennenswerter Umsatz. Ob das alles sei, fragte er. Ja, sagte man ihm. Das war also wieder so ein Schuss in den Ofen. Dann erzählt er von einem anderen Probejob. Weiße Ware, wie er sie liebt, gute Kundschaft. Kollegen, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten. Doch nach drei Tagen wollte man ihn in die Kleingeräteabteilung abschieben – Toaster, Fritteusen, Haartrockner. Da meinte Klaus Tismer, dafür sei er nicht der richtige Mann, bei allem Respekt. Und ging. Das war seine Art, Würde zu behalten.
Herbst 2010
Regelmäßig erscheint er nun im Jobcenter. „Klaus, du hast mal gesagt, du würdest dich nicht wundern, wenn da mal einer mit einer Bombe reinmarschierte.“ „Hab ich das?“ „Haste.“ „Ach weißte: Ich bin jetzt schon so lange dabei. Da wirste gelassen. Ich hasse das Jobcenter nicht. Das kann ja nichts dafür. Was ich immer noch nicht abkann, sind die vielen Typen dort, die einen für bescheuert halten, bloß weil man Hartz IV ist. Du gehst da rein – und wirst behandelt wie einer, der nicht schreiben und nicht lesen kann. Aber ich bin nicht dämlich – und ich werde auch nicht dämlich.“ Klaus Tismer schnuppert. „Ich glaube, ich bin gefordert. Amy riecht ’n bisschen streng.“ Er steht auf. Kneift die Augen zusammen und erklärt: „Ich bin kein Depp. Und ich lasse mich nicht kaputt machen.“
Hartz IV
Das ist schon ein komischer Name für eine soziale Zuwendung: Peter Hartz war eigentlich nur der Vorsitzende einer Kommission, die bis 2002 Vorschläge zur Reform des deutschen Sozialsystems erarbeitete. Je nachdem, wie lange man gearbeitet hat, bekommt man zunächst für maximal zwei Jahre Arbeitslosengeld, anschließend das sogenannte Arbeitslosengeld II. Aber, na ja. Die meisten Menschen finden das wohl ein bisschen bürokratisch und sagen deswegen lieber: „Ich bin jetzt Hartz.“