Paris, die Stadt der Liebe, das Herzstück französischer Geschichte und Gegenwart, Zentrum von Kultur und Macht, der Stolz eines Landes. Hier ist alles eine Nummer größer. Auch die Schulen.
Majestätische, blau-weiß-rot beflaggte Gebäude sind die Repräsentanten der „Éducation Nationale“, so auch das Lycée Victor Duruy im 7. Arrondissement. Nur die Jugendlichen, die rauchend und lärmend die Fußwege verstopfen, lassen auf den ersten Blick erkennen, dass es sich hier um eine Schule handelt. Über ihren Köpfen und der Eingangstür prangt das Selbstverständnis Frankreichs: „Liberté. Egalité. Fraternité“ – für immer in Stein gemeißelt.
Demgegenüber stehen Zahlen. Zahlen, die an den dicken Mauern nagen, Worte entwerten und ein anderes Bild von der Realität des französischen Schulsystems zeichnen: geschätzte 150.000 Schulabbrecher pro Jahr, was ungefähr einer Quote von zwölf Prozent entspricht. In Deutschland betrug diese zuletzt 5,2 Prozent. Dazu kommt eine Jugendarbeitslosenquote von 25 Prozent, womit Frankreich etwas über dem EU-Durchschnitt liegt. Und einer der hinteren Ränge beim PISA-Test 2012 – im OECD-Vergleich zeigte sich, dass sich in Frankreich die soziale Herkunft am stärksten in den schulischen Leistungen niederschlägt.
Doch wie kommt es, dass die Grande Nation als Verteidigerin der Gleichheit solche Defizite hervorbringt?
Im Lycée, das der deutschen gymnasialen Oberstufe entspricht, treffen wir Annick Guillemot, Lehrerin für Geschichte und Geografie. Sie spricht hastig, hat gleich wieder Unterricht. „Hier haben wir diese Probleme nicht. Die Schüler sind gut situiert und erzogen, sie werden studieren. Sie leben in einer gewissen Dynamik des Erfolgs.“ Und die tragen sie auch zur Schau in der Pariser Nobelgegend, wie schon die Marken ihrer Jacken verraten.
Aber auch die andere Seite der Medaille ist der Lehrerin nicht fremd. Sie erzählt von Kindern, die von der Grundschule im Alter von elf Jahren auf das Collège übertreten und nicht richtig lesen können. Und von Schülern aus der Banlieue, die noch nie den Eiffelturm gesehen haben. Die Schere zwischen Arm und Reich, die sich hinter dem Ideal auftut, wird größer und größer. Und ein Schulsystem, in dem soziale Unterschiede keine Rolle spielen dürfen, reproduziert ebendiese. „Es ist gewissermaßen ein System in zwei Geschwindigkeiten“, sagt Guillemot.
Wer durchs Raster fällt, ist raus
Im multikulturellen Paris kommen Kinder verschiedenster Herkunft und Bildung zusammen. Das französische Schulsystem gedeiht ihnen die gleiche Behandlung an – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr besuchen die Kinder dieselben Schulformen: erst die Vorschule, dann die Grundschule und schließlich das Collège. Danach erfolgt die Teilung zwischen jenen, die ihr Abitur ablegen, und anderen, die eine Ausbildung beginnen. Raum für Spezialisierung oder individuelle Förderung bleibt bis dahin kaum. Wer durchs Raster fällt, ist raus.
In anderen europäischen Ländern ist dieses einspurige System ebenfalls verbreitet. Besonders in Skandinavien hat es sich bewährt, dass die Jugendlichen bis zum Alter von 16 Jahren eine gemeinsame Schule besuchen und danach den Weg ins Berufsleben oder zum Abitur einschlagen. In den PISA-Erhebungen liegen die Leistungen der finnischen Schüler sogar regelmäßig in der Spitzengruppe; das finnische Bildungssystem gilt als vorbildlich.
Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, was Frankreich davon unterscheidet: Es ist aus langer Tradition ein zentralistisches Land, in dem sich alle Vorgänge von Belang in Paris abspielen. Auch wenn diese Struktur in der jüngeren Vergangenheit zu entzerren versucht wurde, schlägt sich dieses Prinzip auch in der Organisation und Verwaltung des Bildungswesens nieder.
Das „Ministère de l’Éducation Nationale“ hat seinen Sitz mitten in Paris. Hinter einem eisernen Zaun wacht man über die Vorgänge in französischen Schulen. Bildung ist Sache des französischen Staates und obliegt nicht wie in Deutschland der Kompetenz der Bundesländer oder wie in Finnland den einzelnen Schulen – dort können Regelungen besser mit der Realität abgeglichen werden als in einem Land mit über 60 Millionen Einwohnern.
Welche Auswirkungen hat diese Struktur auf die schulische Realität in Frankreich? In einem Park vor dem Lycée sprechen wir eine junge Frau an. Yvelle ist 22, Studentin, und sprudelt sofort los, als wir uns erklären. „Das Problem liegt in den Schulen. Die Lehrer interessiert es nicht, ob ein Schüler kommt oder nicht. Und sie haben auch keine Zeit dafür.“ Besonders Kindern, die ohnehin schon als lernschwach gelten, würde keine Betreuung oder Hilfe zukommen. „Sie sind überfordert mit der Theorie und dem Stoff. Und sie wissen nicht, was sie damit anfangen können. Es fehlt einfach an einer Berufsorientierung.“ Für Yvelle ist dies das Kernproblem. Man müsse den Schülern bereits im Unterricht die Möglichkeiten aufzeigen, wie sie ihr Wissen später nutzen können. „Aber dazu bedarf es individueller Förderung.“
Und die kann schon mal zu kurz kommen in einem Schulsystem, in dem erklärterweise 80 Prozent der Schüler das Bildungsziel „bac“ – die französische Hochschulreife – erreichen sollen. In Frankreich liegt die Abiturquote aktuell bei etwa 71 Prozent, in Deutschland legen knapp 36 Prozent eines Jahrgangs ihre allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife ab.
Dieser universelle akademische Anspruch erklärt auch, warum viele Jugendliche dabei auf der Strecke bleiben. Auch Hadrien Lenoir beschäftigt sich mit dieser Problematik. Er arbeitet für SOS Racisme, eine NGO, die sich für Gleichberechtigung in einer bunt gemischten Gesellschaft einsetzt. „Es ist wie ein Wettrennen bei den Olympischen Spielen. Und man sagt: ‚Okay, dieses Land startet 30 Meter vor dem anderen. Mal sehen, wer zuerst ankommt.‘ Ich weiß, wer zuerst ankommt!“ Er spricht fast akzentfreies Englisch, das in seinem unscheinbaren Büro widerhallt. Über seinem Kopf ein Bild von einem schwarzen Mann und einer weißen Frau, „Tous égaux!“ – „Alle gleich!“.
Soziale oder familiäre Gegebenheiten verfestigen sich in der Schule
Was das für Lenoir bedeutet, führt er aus: „Eigentlich ist es die Aufgabe des Staates, für Gleichheit unter den Bürgern in Frankreich zu sorgen. Aber die Realität ist, dass es in Frankreich immer noch riesige Unterschiede zwischen den Schulen gibt.“ Aufgrund des Prinzips der Schulzuteilung nach Wohnort setzen sich bestehende soziale Ungleichheiten in den Schulen fort und konzentrieren sich dort, anstatt sich durch Vermischung anzugleichen. Da viele Einwanderer in die eher schlechter situierte Banlieue ziehen, erfahren besonders diese Kinder kaum spezielle Förderung. Soziale oder familiäre Gegebenheiten verfestigen sich in der Schule, wenn wenig Raum zur Differenzierung bleibt. „Man muss gleiche Mittel und Umstände für jeden schaffen, um sich in die Gesellschaft einzubringen. Anders wird es nicht funktionieren“, meint Lenoir zur staatlich verordneten Gleichheit.
Und wie kann das gelingen? So lautet die Frage, die am Ende stehen bleibt und die keiner unserer Gesprächspartner beantworten kann.
Es laufen Programme zur Wiedereingliederung von Schulabbrechern, es wird über einen Ausbau der beruflichen Gymnasien nachgedacht, und die Öffentlichkeit beäugt die Entwicklung kritisch. Dennoch kehrt ein Punkt immer wieder: „Wenn man ein Rennen machen will, müssen alle auf derselben Höhe starten“, sagt Hadrien Lenoir. „Sonst ist es nicht fair.“
Charlotte Jawurek recherchierte zwei Wochen lang in Paris zum Thema Jugendarbeitslosigkeit. Dabei hat sie festgestellt, dass die Debatte um das deutsche Schulsystem stellenweise mit genau den Argumenten geführt werden, die in Frankreich in der Kritik stehen.