Die Geschichte der Lebewesen ist immer schon dynamisch, sehr früh hat der Mensch hier eingegriffen: Tier- und Pflanzenzucht sind ein integraler Teil der Kulturgeschichte. Diese Prozesse verliefen allerdings langsam, allmählich. Und ihr Verständnis war Erfahrungswissen aus Beobachtungen, Versuchen und Irrtümern. Die inneren Mechanismen der Vererbung blieben verborgen. Seit der Entdeckung der Gene als Bauplan des Lebens vor über 60 Jahren ist etwas radikal anders geworden. Das Verständnis der Vererbungsprozesse wird immer detaillierter, die Eingriffsmöglichkeiten und die Geschwindigkeit der Entdeckung und Umsetzung der Erkenntnisse entwickeln sich rasant.
Es ist sicher kein Zufall, dass zuerst Pflanzen und die Landwirtschaft das Versuchsfeld wurden. Die seither gemachten Erfahrungen mit genmanipuliertem Saatgut sind durchaus widersprüchlich. Es gab erstaunliche Ertragssteigerungen auf der einen Seite, aber auch immer wieder unvorhergesehene Folgen, die zulasten der Bauern und der natürlichen Artenvielfalt gehen.
Inzwischen sind die Möglichkeiten gewachsen, gentechnische Eingriffe auch an anderen Lebewesen zu betreiben. Erfolgversprechende Gentherapien in der Medizin, Forschungen an Stammzellen und Embryonen zeigen, dass nun sogar der Mensch selbst zum Gegenstand gentechnischer Manipulationen wird. Damit geht es inzwischen um nichts weniger als die natürlichen Grundlagen des Menschseins.
Die dem Kapitalismus eigene Tendenz, solche Prozesse großen Konzernen und Quasi-Monopolen zu übereignen, hatte bereits bei der Pflanzengenetik fatale Folgen, die Debatten dazu sind heftig und werden international geführt. Auch die Erfahrungen mit der Big-Data-Industrie und ihrer am Profit orientierten Aneignung persönlicher Daten, mit ihrer Übermacht auch gegenüber Staaten, können ein Menetekel sein. Es wird zunehmend klarer, dass ethische Fragen sich nicht automatisch technisch oder in wissenschaftlichen Expertenzirkeln lösen lassen. Die Frage bleibt im Raum: Wem gehört das Leben?
Die menschliche DNA besteht aus Milliarden Bausteinen, die Kombinatorik der genetischen Effekte ist riesig, und das Zusammenspiel mit anderen Umwelt- und sozialen Einflüssen wird nur in ersten Ansätzen verstanden. Die digitalen Technologien beschleunigen alle Prozesse enorm, gemeinsam mit dem drängenden Kapital verringern sie die Zeit, die den Gesellschaften gegeben ist, sich über Ziele und Tabus der Gentechnik zu verständigen.
Die Naturwissenschaften sind immer auch politisch gewesen, hier werden sie es auf neue, grundlegende Weise. Die Massenmorde im Nationalsozialismus sind eine Mahnung, wie weit die Instrumentalisierung behaupteter wissenschaftlicher Erkenntnisse führen kann.
Wir brauchen den Mut zur Entwicklung, zur Nutzung der faszinierenden Möglichkeiten der Gentechnik. Doch wir brauchen auch den organisierten Willen zur Gestaltung und politischen Verantwortung. Ethikräte, parlamentarische Beratungen und Gesetzgebungen sind erste, vielversprechende Formen. Die Debatte muss aber viel breiter und stetiger werden, nur so kann sie rechtzeitig an die entfesselte Dynamik des wissenschaftlich- technischen Fortschritts aufschließen.