Wir haben uns an die Nachrichten von Flüchtlingsschicksalen und zerrissenen Familien fast schon gewöhnt. Aber nur die wenigsten von uns können sich wirklich vorstellen, was es für einen Menschen bedeutet, seine Heimat verlassen zu müssen und in einem fremden Land ein neues Leben zu beginnen. Der Schweizer Filmemacher Samir hat mit „Iraqi Odyssey“ eine Art Familienchronik gedreht, die gleichzeitig eine Geschichte der Heimat seiner Eltern ist. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsdiskussion gelingt ihm etwas Seltenes: Er liefert gleichermaßen eine Innenansicht wie eine Langzeitbeobachtung. Der Film schildert die Erfahrungen von Menschen, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen gezwungen sind, ihr Land und ihre Familien zu verlassen. Dabei wird klar: Große Migrationsbewegungen, wie wir sie derzeit erleben, hat es im 20. Jahrhundert immer wieder gegeben.
Samirs Eltern verließen den Irak in den 1960er-Jahren, kurz nachdem die Baath-Partei an die Macht kam, der auch der spätere Diktator Saddam Hussein angehörte. Das Baath-Regime verwandelte das Land in einen totalitären Staat – unter anderem wurden die Anhänger der kommunistischen Partei verfolgt. Eine gewaltige Fluchtwelle war die Folge. Vier Millionen Irakis leben heute in der Diaspora, sie sind über den gesamten Globus verstreut.
Auf Schwyzerdütsch über die irakischen Wurzeln nachdenken
Die Geschichte der Familie Jamal-Aldin, wie Samir mit bürgerlichem Namen heißt, liest sich fast so kompliziert wie die Geschichte des Irak. Und sie ist in vielerlei Hinsicht repräsentativ für das Schicksal vieler irakischer Familien, die Opfer der politischen Umwälzungen im 20. Jahrhundert geworden sind. Samir, der in der Schweiz, dem Heimatland der Mutter, geboren wurde, sagt in „Iraqi Odyssey“, dass er sich heute als Schweizer fühlt (man hört es an seinem schönen Schwyzerdütsch), aber immer eine tiefe Verbundenheit zu seinen irakischen Wurzeln verspürt.
Mit seinem Film wollte er diesem Gefühl nachgehen. Wie ist es um die kulturelle Identität eines Volkes bestellt, das auf der ganzen Welt verstreut lebt? Und welches Verhältnis haben seine Verwandten im Exil zu ihrer Heimat, die sie Jahrzehnte zuvor verlassen mussten? „Iraqi Odyssey“ ist eine interessante Fallstudie und ein faszinierendes Familienporträt, das den Regisseur von Neuseeland über Großbritannien bis in die USA führte, wo seine Onkel, Tanten und Geschwister heute leben. Menschen, die er nur aus Erzählungen kennt oder zu denen er all die Jahre nur sporadisch Kontakt gehalten hat.
Eine spezielle Familienchronik, ein anderer Blick auf den Irak
Es zeigt sich, dass besonders unter den älteren Verwandten die Frustration über die politische Entwicklung im Irak groß ist. Die Hoffnung, dass der Sturz von Saddam Hussein durch den Einmarsch der US-Armee 2003 die ruhmreiche irakische Moderne der 1950er-Jahre restaurieren könnte, erwies sich bald als Trugschluss. Die Jahrzehnte im Ausland haben seinen Onkel Sabah, der in London lebt, seine Tante Samira in Neuseeland und seine Cousins weiter von ihrer Heimat entfremdet. Nur Samirs 30 Jahre jüngere Halbschwester Souhair, die in den USA auf eine Aufenthaltsgenehmigung wartet, sieht die Entwicklung optimistisch. Die Jugendlichen seien weltoffener als unter dem alten Regime, auch Frauen hätten heute mehr Rechte. Sie spricht sogar davon, in den Irak zurückzugehen, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen.
Samir verbindet in „Iraqi Odyssey“ auf bewegende Weise die Erinnerungen seiner Verwandten mit der bewegten Geschichte des Landes, das im 20. Jahrhundert zum Spielball der politischen Mächte (unter anderem zwischen den USA und der Sowjetunion im Kalten Krieg) wurde. Die erstaunliche Menge an Archivaufnahmen, historischen Fotos, Filmausschnitten, Homemovies und Nachrichtenbildern, die Samir für seinen Film über einen Zeitraum von zehn Jahren zusammengetragen hat, fügen sich zu einer faszinierenden Familienchronik.
Die Jamal-Aldins stammen aus dem irakischen Bürgertum. Samirs Großvater war in den 1950er-Jahren ein angesehener Richter, der seine Töchter auf die Universität schickte. Damals bestand in der irakischen Gesellschaft noch kein Widerspruch zwischen religiösen und säkularen Strömungen. So fungiert „Iraqi Odyssey“ auch als wichtiges Korrektiv, indem der Film ein anderes Bild vom Irak entwirft, als man es heutzutage aus vielen Medien kennt – und zeigt, dass das Politische und das Private untrennbar miteinander verbunden sind.