fluter: In der Schule oder in der Uni, in der Familie, unter Freunden – spielen wir nicht ständig irgendwelche Rollen?
Wolfgang Engler: Es spricht einiges dafür, dass die Gesamtheit dieser Rollen schon einen großen Teil eines Selbst oder einer Identität ausmacht. Gerade weil ja auch Rollenkonflikte auftreten. Zwischen Rollen, die ich privat spiele, und Rollen, die ich beruflich spiele, oder Rollen, die ich spiele, wenn ich mich politisch engagiere. Die passen ja manchmal gar nicht so gut zueinander.
Ist es sinnvoll, nach einem Wesenskern hinter den Rollen zu suchen, die wir in unserem Leben spielen?
Das ist sozusagen die Königsfrage. Was ist der Mensch, wenn man mal alle sozialen Rollen, die er spielt, von ihm abzöge? Ist er dann überhaupt noch jemand? Meine Antwort wäre: Ja, aber das ist schwer zu fassen. Denn es stimmt ja, dass wir in all diesen Rollen nicht wirklich aufgehen. Wenn es gut geht, bin ich der Spiritus Rector meines Rollenspiels.
Sind wir alle nur Selbstdarsteller?
Es bleibt immer eine Inszenierung. Und die Idee, alle Masken abzureißen und alle Inszenierungen abzuschaffen, um das wahre Selbst zum Vorschein zu bringen, ist eine komplette Illusion.
„Wenn jeder nur noch er selbst sein darf, schränkt das die Möglichkeiten unerhört ein“
Kann man als Schauspieler eine Rolle nur gut verkörpern, wenn sie auch einen persönlichen Bezug zu einem hat?
Jemand, der mit 23 Jahren Schauspieler werden will, hat ja meist keine Ahnung, wie es als Junkie oder Obdachloser ist – oder auch als König oder Königin. Also geht es um die Fähigkeit, sich dem, was ich nicht bin, zu nähern; durch Beobachtung oder durch Nachahmung. Gerade das macht ja Lust auf das Spiel. Warum spielen Menschen, und warum spielen Kinder? Natürlich nicht, weil sie etwas schon sind. Sondern weil sie in einer Situation sind, wo sie gucken und testen: Was machen die anderen? Einen persönlichen Bezug braucht es also nicht unbedingt. Aber um etwa in die Rolle des Obdachlosen zu schlüpfen, kann es hilfreich sein, in seiner eigenen Biografie zu schauen: Welche Demütigungserfahrungen habe ich selbst mal gemacht?
Wäre es nicht tatsächlich glaubwürdiger, wenn ein echter Obdachloser einen Obdachlosen spielen würde?
Man kann den Kern dieses Themas, das politisch und wirklich ernst zu nehmen ist, an der Blackfacing-Debatte festmachen. Ist es okay, wenn ein weißer Schauspieler Othello spielt, obwohl es doch genug schwarze Schauspieler gibt? Man kann auch fragen: Wer hat das Recht, auf der Bühne zu stehen und eine Rolle zu spielen, ohne dass er anderen das Recht wegnimmt, für sich selbst zu reden? Darf ein Mann eine Frau spielen? Weiß ein Mann jemals, wie eine Frau wirklich ist? Kann ein Schauspieler, der aus der Mittelschicht kommt – so wie fast alle, die hier studieren –, einen Arbeitslosen spielen? Wäre es nicht viel besser, wir lassen den ganzen Quatsch und casten einfach Leute auf der Straße? Gehen zum Bahnhof Zoo, sprechen einen Obdachlosen an und fragen, ob er gegen ein kleines Handgeld sich selber spielen würde.
Kommt die Fähigkeit, in die Rolle eines anderen hineinzuschlüpfen, der Gesellschaft als Ganzem zugute?
Das ist eine Fähigkeit, die soziale Fantasie fördert. Man versteht, wie die anderen leben. Wenn jeder nur noch er selbst sein darf, schränkt das die Möglichkeiten unerhört ein – auch die Möglichkeit der Empathie: mal zu erfahren, wie es sich anfühlt, ein anderer zu sein.
Die Frage nach der kulturellen Aneignung gibt es nicht nur im Theater. Derzeit gibt es eine Diskussion, ob weiße Menschen Dreadlocks tragen dürfen oder ob das eine Banalisierung der Leidensgeschichte afrikanischer Sklaven ist.
An den US-amerikanischen Universitäten ist diese Art von Empfindlichkeit besonders ausgeprägt: Ich möchte nicht, dass mein Professor mir einen Text vorlegt, der meine ethnische Identität oder meine Gender-Identität verletzt. Und wenn der das macht, dann gehe ich raus. Es gab den Fall, dass Studenten aus der weißen Mittelschicht das Recht abgesprochen wurde, asiatisches Essen zu kochen, weil sie sich damit etwas anmaßen. Das ist ein seltsamer Besitzanspruch: Ich besitze meine Herkunft, und die lasse ich mir auch nicht wegnehmen. Du ziehst dich nicht so an, du sprichst nicht so und du kochst nicht so – das bin ich! Stellen Sie sich vor, das machen jetzt alle so. Dann dürfte auch ein Sachse, der nach Stuttgart gezogen ist, nicht mehr versuchen, ein bisschen wie die Schwaben zu werden. Dann ziehe ich als Schwabe gleich mal vor Gericht und klage an, dass der meine kulturelle Identität nur kopiert.
„Die Unterscheidung wird immer schwerer: Wo ist eigentlich der Raum, der nur mir gehört?“
Aber ist es nicht legitim, mit kulturellen Formen von Völkern, die wir als Europäer uns ehemals unterworfen haben, ein bisschen behutsamer umzugehen?
Ich sehe das anders, für mich ist das eine Fortsetzung der kulturellen Herablassung mit anderen, scheinbar zivilisatorisch-emanzipatorischen Mitteln und Rhetoriken. Nichts anderes.
„Erkenne dich selbst“ lautet eine Inschrift am Eingang des Apollontempels in Delphi. Heute heißt es in der Werbung oft: „Sei ganz du selbst“. Die Forderung nach Authentizität ist anscheinend sehr alt.
Sie hat über die Jahrhunderte und sogar Jahrtausende hinweg sehr verschiedene Antworten hervorgebracht. Eine Antwort war zum Beispiel: Ich bin ich selbst, wenn ich natürlich bin. Das heißt in der Konsequenz: Der Mensch ist am authentischsten, wenn seine Selbststeuerung zusammenbricht. Wenn er Unruhe zeigt, wenn seine Augen flattern, der Kehlkopf. Dann glaubt man: Jetzt ist der Mensch wirklich da, bis dahin hatte er sich verstellt.
Im Job wird erwartet, dass man sich ganz mit seiner Tätigkeit identifiziert und darin aufgeht. Warum ist die Forderung, man selbst zu sein, heute so massiv?
Bis vor 100 Jahren haben sich Unternehmen damit begnügt, dass ihnen Menschen ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Irgendwann schien das nicht mehr zu reichen, und es wurde erwartet, dass die Menschen den Firmen auch ihre Persönlichkeit zur Verfügung stellen.
Klingt anstrengend.
Nehmen wir mal die schöne alte Arbeitswelt des klassischen Angestellten. Der kommt morgens, macht seine Arbeit, dann schaut er auf die Uhr: 17 Uhr. Der Stift fällt nieder, und das donnernde Leben beginnt. Zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu unterscheiden, also zu sagen: Das ist mein Leben, und das ist das Leben fürs Unternehmen, das hat natürlich etwas Befreiendes. Der heutige Angestellte fragt sich ja auch am Feierabend immer noch, ob er sich gerade Skills aneignet, die ihm mal nutzen könnten. Ist es gut für die Arbeit, dieses Buch zu lesen, ins Theater zu gehen, diese Freunde zu treffen? Die Unterscheidung wird immer schwerer: Wo ist eigentlich der Raum, der nur mir gehört?
Woher kommen diese Gedanken?
Die neue Art der Unternehmenssteuerung, wie sie auch im Silicon Valley vorgelebt wird, heißt: Entfremdung verboten. Du darfst dich in einem Beruf nicht mehr fremd fühlen, du musst du selber sein. Auch sonst wird viel Identitäts-Fastfood angeboten. In Form von Werbung, die mir verspricht, dass ich durch einen millionenfach produzierten Turnschuh ganz ich selbst werden könnte, in Form von Ratgeberliteratur, die mir sagt, was ich tun muss, um ganz ich selbst zu werden.
„Die Welt wirkt so schwierig – da ist die Beschäftigung mit sich selbst ein bequemer Ausweg“
Es gibt in einer Zeit der Selfies und der Optimierung durch Wellness viel Beschäftigung mit sich selber. Leidet darunter die Initiative, die Gesellschaft als Ganzes positiv weiterzuentwickeln?
Der Aufwand, den man mit dem Bild und dem Entwurf von sich treibt, die Leidenschaft und die Zeit, die investiert werden, sind schon auffallend. Ich denke, dass sich da etwas staut, das ebenso gut der Weltveränderung zugutekommen könnte. Aber die Welt wirkt so schwierig und so komplex und scheint auch von selber zu laufen – da ist die Beschäftigung mit sich selbst ein bequemer Ausweg. In den späten 1960er- Jahren war das ganz anders: Da war mein Authentischsein eigentlich nur vor dem Hintergrund möglich, dass die Welt eine andere wird. Ich konnte in dieser als falsch betrachteten Welt gar kein Richtiger sein. Also musste ich mich mit anderen zusammentun, um gemeinsam das große Ganze zu verändern, damit man überhaupt dieses Ideal – sei du! – erreichen konnte. Wenn ich aber nicht mehr daran glaube, dass ich die falsche Welt zum Besseren ändern kann, dann fließen diese Energien in mein Projekt der Selbstveränderung. Hier bin ich, hier ist mein Entwurf, hier ist mein Fake.
Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt zu komplex ist.
Komplexität ist heute eine der ganz großen Legitimationsformen. Das ist zu komplex! Wer sagt das heute nicht alles! Aber ich glaube, dass das eine Fehlwahrnehmung ist. Oft kann man ganz klar Ross und Reiter benennen – etwa in der Finanz- oder der Flüchtlingskrise. Der Widerspruch zwischen dem, wie wichtig wir unser Ich nehmen und wie sehr sich dieses Ich andererseits degradiert, wenn es um die vermeintlich zu komplexen Verhältnisse geht, ist schon erstaunlich.
Viele YouTuber reden zu einem großen Teil darüber, wie sie selbst die Welt sehen.
Dieser enorme Aufwand, den die Leute heute mit ihrer Selbstformung und Selbstgestaltung treiben, ist Rückstau sozialer Problematiken, die wir uns nicht mehr trauen anzupacken. Es geht nicht darum, das zu moralisieren. Aber es sind Phänomene, die einfach nicht zusammenpassen und wo die Widersprüche die Leute selber durchziehen. Mal schauen, wo das hinführen wird.
Ist es nicht erst mal etwas Gutes, dass die Leute heute eine Ich-Stärke entwickeln?
Die Frage, wer bin ich, wer möchte ich sein, und welche Fähigkeiten habe ich, von dem, der ich bin, zu dem zu werden, der ich sein möchte – das waren lange Zeit Themen und Fragen, mit denen sich zu beschäftigen ein Privileg der Eliten war. Es darf aber nicht ausufern. Was heute Authentizität heißt, hätte man früher Narzissmus genannt. Ich kippe den anderen mein Sosein vor die Füße und unterwerfe mich weder Konventionen noch Rollenklischees. Und morgen bin ich vielleicht schon wieder ganz anders.
Schaut man sich die Hassreden im Netz an, hat man den Eindruck, dass viele Menschen durch Hass in ihrer Identität zusammengehalten werden.
Was gar nicht so selten passiert, ist, dass Menschen aus der Not eine Tugend machen. Dass sie ihr Leben mit all den negativen Erfahrungen, um darunter nicht begraben zu werden, zu einer überlegenen Existenz aufplustern. Sie finden dann einen Grund, auf die, die eigentlich auf sie herabschauen, ihrerseits herabzuschauen.
Der wütende Mob, der auf Pegida-Veranstaltungen und auch am Rande der Feierlichkeiten zur deutschen Einheit in Erscheinung getreten ist, kann sich mit der Mehrheitsgesellschaft jedenfalls nicht mehr identifizieren.
Das scheint auf einen wachsenden Teil der europäischen Gesellschaften zuzutreffen, etwa auch auf Frankreich, auf Österreich, auf die Schweiz und auch auf skandinavische Länder. Überall dort fühlen sich viele Menschen offenbar durch das System der politischen Repräsentation – zu der ich weiter gefasst auch die Medien und die veröffentlichte Meinung zählen möchte – nicht mehr repräsentiert. Das stimmt für die nicht mehr, das trifft sie nicht. Und was macht man dann? Dann gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann sich selber organisieren, um denen zu zeigen, was man von ihnen hält, nämlich gar nichts mehr. Man kann regelmäßig aus der Haut fahren.
Was wäre denn der richtige Weg, zu sich selbst zu finden?
Sich davon frei zu machen, wäre schon mal toll, das wäre ein Anfang. Einfach mal zu fragen: Kann ich nicht mal nicht ich sein? Es gibt eine Definition für Authentizität, die meines Erachtens eine recht hohe Gültigkeit beanspruchen kann: Das ist Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Wo stehe ich, wer bin ich, wo will ich sein? Und wenn da Unstimmigkeiten sind, dann versuche ich vielleicht, die in eine größere Harmonie zu bringen. Ich denke, man muss mit manchen seiner Gegebenheiten einfach Frieden schließen. Ich bin so, so sehe ich aus, diese und jene Fähigkeiten habe ich, andere habe ich eben nicht. Dies sind meine Stärken, dies sind meine Schwächen. Wenn man das erkennen kann, ist man aus dem permanenten Druck der Selbstoptimierung raus.
Titelbild: Jan Brandes