Die Frage „Wer bin ich?“ verweist auf eine zweifache Grundlage der liberalen Gesellschaft. Einerseits führt sie auf die Spur des mündigen Individuums, das mitentscheidet, sich einmischt und sich den Debatten stellt. Andererseits ist die Identitätsbildung im Kapitalismus ökonomisch verfasst als riesiges Feld der Vermarktung. Ganze Service-Industrien gruppieren sich um die Einzelnen und organisieren die Ausrüstungen für das vermeintlich Eigene. Es gilt ein allgemeiner konsumistischer Ich-Befehl. Der Distinktionsgewinn lauert überall. „Ich“ mache den Unterschied mit Hilfe von Mode, Kosmetik, Popkultur, Touristik etc. Diese ganzen Selbst-Aufrüstungen hinterlassen ein zwiespältiges Bild – sie können als Training für den selbstbewussten Gang durch die komplexen und dynamischen Wirklichkeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gelesen werden. Sie wirken aber immer wieder auch schal, weil Konsum letztlich leer bleibt im Verhältnis zu anderen, „realen“ Erfahrungen.
Identitätsbildungen erzählen unterschiedlichste Geschichten. Sie zeigen, wie Werte, Haltungen sich bilden in unseren Auseinandersetzungen, Erfahrungen mit Anderen, mit unserem Herkommen, der Aneignung der Wirklichkeiten und unseren Entwürfen für ein gelungenes Leben. Identität ist oft die Summe dessen, wie wir andere sehen oder verkennen und wie wir gesehen werden und gesehen werden wollen. Krisen und Verstörungen sind hier ebenso wichtig wie Erfahrungen der Wirksamkeit, des Einflusses aufs eigene Geschehen. Achtsamkeit, die wir nicht bekommen haben oder vermissen, kann uns darauf hinweisen, diese anderen zugutekommen zu lassen, es besser zu machen, als es uns ergangen ist.
Diese Mikropolitiken des Alltags sind wesentlich für das Ganze der Gesellschaften. Gelingen sie, erleben wir uns als Souveräne unserer selbst und können den Zusammenhalt zulassen und organisieren. Hier ist Identität zuletzt wieder streitbar geworden – was bedeutet eine massenhafte Einwanderung für Deutschland, was sind unsere Werte, was soll gelten, wie soll das Geltende durchgesetzt werden? Wer gehört dazu? Die Versprechungen einfacher, geschlossener nationaler Identitäten sind letztlich Gewaltfantasien. Aber es gibt Gründe für ihren beträchtlichen Erfolg, und die verweisen auf offene Fragen. Die Balance der Identitäten und das Verständnis dafür müssen öffentlich neu verhandelt werden. Wie kann sich eine Neubestimmung gesellschaftlichen Zusammenhaltes, auch symbolisch, gestalten? Sind der Nationalstaat und der Begriff der Nation entwicklungsfähig genug, hier nachhaltige Formen für eine Einheit in der Vielfalt zu organisieren? Welche Rolle spielen regionale, geschichtliche, religiöse und andere kulturelle Identitäten? Das sind sensible und hochnervöse Felder der Auseinandersetzung. Souverän ist, wer mit sich und den anderen einverstanden bleiben kann.