Helmut Damm könnte einen syrischen Pass vermutlich im Schlaf erkennen: an der Haptik, der Dicke des Papiers oder – wenn er die Augen öffnet – an dem oft etwas speckig glänzenden Blau der Umschlagseite, auf der in drei Sprachen geschrieben steht: Syrisch-Arabische Republik. Damm – 66 Jahre, silbernes Haar, selbstsicheres Lächeln – hält jeden Tag syrische Pässe in den Händen. Er fischt sie aus einer Klarsichtfolie, legt sie unters Mikroskop und beginnt mit der Spurensuche. Wenn die Passnummer nachträglich geändert wurde, lässt sich das zum Beispiel an kleinen Kratzern im Dokument erkennen. Und zum Prüfen von Wasserzeichen hat er einen speziellen UV-Licht- Apparat. Sein Arbeitsplatz sieht aus wie ein Labor.
Deutschland will wissen, wer ins Land kommt. Alle Menschen, die Asyl beantragen, müssen deshalb ihre Papiere zur Prüfung abgeben. Dann landen sie bei Menschen wie Helmut Damm, der im Berliner Stadtteil Wilmersdorf für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) arbeitet. Das Bürogebäude, in dem die Außenstelle des Amts seit Anfang 2016 untergekommen ist, gleicht noch immer einer Baustelle: Kabel hängen von den Decken, und in dem Büro der Dokumentenprüfer stapeln sich an der Wand die gelben Postkisten.
„Wir sind völlig überflutet worden mit Arbeit“, erzählt Damm. Wegen der großen Zahl von Asylanträgen, die 2015 gestellt wurden, kamen die Dokumentenprüfer nicht mehr mit der Arbeit hinterher. Das BAMF reagierte mit einer Rekrutierungsoffensive: Deutschlandweit stockte das Amt zwischen Anfang 2015 und heute sein Personal um über 6.000 Mitarbeiter auf – ein Teil davon wurde von anderen Ämtern abgeordnet. Die Leute wurden zum Teil in Schnellverfahren geschult – oder sie wurden wie Damm aus dem Ruhestand geholt. Mit 32 Jahren Berufserfahrung beim Berliner Landeskriminalamt ist er sozusagen ein Joker für das BAMF.
Das Wichtigste an den meisten Dokumenten seien die Wasserzeichen, erklärt Damm – denn die könne man quasi nicht fälschen. Was aber funktioniert: einen Pass klauen und dann Bild, Namen sowie Passnummer ändern. Der sogenannte IS stehle beispielsweise massenhaft syrische Pässe, um sie weiterzuverkaufen und damit seinen Terrorismus zu finanzieren. In Ländern wie Marokko landeten die Dokumente dann auf dem Schwarzmarkt.
Mit syrischen Pässen kennt sich der Kriminalbeamte a. D. mittlerweile aus – bei einem unbekannten Dokument kann die Prüfung aber auch mal ziemlich lange dauern. „Indische Führerscheine sind die Hölle“, sagt Damm. Denn die gäbe es in allen möglichen Variationen, und die sähen manchmal kaum anders aus als ein Stück Pappe, auf das jemand einen grob geschnitzten Kartoffelstempel gepresst hat.
Wirkt ein Dokument gefälscht oder manipuliert, leitet Damm es an die BAMFZentrale weiter, wo es noch eingehender geprüft wird – unter anderem von Urkundensachverständigen. Rund 75.000 Dokumente mit Manipulationsverdacht sind zwischen Januar und September 2016 von den Außenstellen geschickt worden – etwa 7.000 davon wurden als mutmaßliche Fälschungen beanstandet.
Hinter jeder Geburtsurkunde, hinter jedem Pass steht immer eine individuelle Flucht- oder Migrationsgeschichte. Zum Beispiel ein Marokkaner, der sich einen syrischen Pass gekauft hat, um in Deutschland bessere Chancen auf Asyl zu haben (Marokkaner bekommen in Deutschland nur sehr selten Asyl). Oder ein Oppositioneller, für den die Flucht ohne gefälschten Pass noch gefährlicher gewesen wäre.
Zwar werden seit Oktober alle Urkundsdelikte nicht nur an die Ausländerbehörden der Länder, sondern auch an die zuständigen Polizeibehörden weitergeleitet – trotzdem führt der Umstand, dass jemand nicht die richtigen oder gar keine Ausweispapiere vorlegen kann, nicht zum Ausschluss aus dem Asylverfahren. „Es gibt ja Leute, die müssen mit gefälschten Pässen kommen“, stellt Damm klar. In diesem Fall greift die Anhörung zu den Fluchtgründen als zusätzliche Station der Identitätsfeststellung. Wer hier transparent darlege, warum er mit seinen richtigen Dokumenten nicht hätte flüchten können, der habe trotzdem Chancen auf Asyl, heißt es beim BAMF.
Das Gleiche gilt im Prinzip für Leute, die ganz ohne Papiere nach Deutschland kommen. Bei ihnen wird im Zweifel mittels einer Sprachanalyse geprüft, ob sie tatsächlich aus der Gegend kommen, die sie als ihr Zuhause angegeben haben. Manchmal werden auch konkrete geografische oder bauliche Merkmale des angegebenen Heimatorts erfragt: Wo genau steht die Moschee? Wo in der angegebenen Stadt fließt der Fluss? Für besagten Mann aus Marokko dürfte es an dieser Stelle trotz fließenden Arabischs schwer werden, sich weiterhin als Syrer auszugeben.
De facto sind fehlende Papiere vor allem auch eins: ein Hinderungsgrund für die Ausreise. In einem Bund-Länder-Bericht von 2015 heißt es dazu in bestem Bürokratendeutsch: Fehlende Identitätsnachweise seien „nach wie vor das quantitativ bedeutendste Problem beim Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen“. Um einen abgelehnten Asylbewerber abschieben zu können, müssen also Papiere her.
Damit diese Papierbeschaffung besser funktioniert, wurde 1993 die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Rückführung gegründet – sie sollte die dezentral organisierte Rückführungsbürokratie effizienter gestalten. Ein Instrument der Identitätsfeststellung, das sich seitdem etabliert hat, sind Sammelanhörungen in Botschaften. Vor allem Menschen aus Westafrika, die keine Pässe haben, werden ihren mutmaßlichen Heimatbotschaften vorgeführt, um dort als Staatsbürger identifiziert zu werden.
Die Bundesregierung bezeichnet diese Vorführungen als „wirksame Verfahren“ – doch sie stehen schon lange in der Kritik. Von „völlig intransparenten Vorgängen in den Botschaften“ spricht etwa die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Manche kritisieren zudem die Kosten für Anhörungen und Passersatzpapiere: Die Gebühren belaufen sich auf bis zu 600 Euro, und es werden immer wieder Beamte zur Identitätsprüfung nach Deutschland eingeflogen. Die Quoten, mit denen Vorgeführte zu Staatsbürgern des jeweiligen Landes erklärt werden, variieren von Staat zu Staat deutlich. Es soll in Einzelfällen schon vorgekommen sein, dass Menschen in ein Land abgeschoben wurden, das sie noch nie zuvor betreten haben. „Dumping Ground“ wird ein solcher Staat im Aktivistenjargon genannt – „Abladeplatz“.