Eigentlich hätte ich Berlin wohl hassen sollen, als ich die Stadt 2014 von Tel Aviv aus das erste Mal besuchte. Ich kam zusammen mit meinem amerikanischen Vater hierher, der in der Nähe von Hannover das ehemalige Vertriebenenlager besuchen wollte, in dem seine polnischen Eltern, Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz, ihn zur Welt gebracht hatten. Vielleicht wäre ich auch gar nicht hingefahren, hätte nicht ein guter Freund aus Los Angeles kurz zuvor beschlossen, nach Berlin zu ziehen. Meine israelische Mutter (ihre Eltern stammen aus dem Irak) jedenfalls war strikt gegen diesen Trip. Sie würde ja nicht mal ein deutsches Auto kaufen.

„Ich stellte mir unentwegt die Frage, aus welchen dieser bezaubernden Altbauwohnungen Juden verschleppt worden waren“

Im selben Jahr sorgte Berlin in Israel mit dem „Milky-Streit“ für Schlagzeilen. Ein aus Israel stammender Berliner zog den Zorn einiger israelischer Parlamentarier auf sich, indem er seine Landsleute aufrief, es ihm gleichzutun und ebenfalls nach Berlin zu ziehen. Sein Hauptargument: Er verglich die Lebensmittelpreise der beiden Städte am Beispiel von Schokoladenpudding, wobei das deutsche Produkt deutlich besser abschnitt – er war um ein Drittel billiger als die beliebte israelische Puddingmarke „Milky“. (Der deutsche Pudding enthält übrigens Gelatine, ist also nicht koscher, aber das nur am Rande.)

Ich gebe zu, als ich das erste Mal durch die Straßen Berlins spazierte, hatte ich keine moderne Stadt vor Augen. Ich musste mir ständig riesige Nazi-Transparente vorstellen, die an Gebäuden und quer über den Straßen hingen. Ich stellte mir unentwegt die Frage, aus welchen dieser bezaubernden Altbauwohnungen Juden verschleppt worden waren. Hörte ich die deutsche Sprache, war das die Sprache der Menschen, die die Familie meiner Großeltern ermordet hatten. Stieg ich in eine Bahn – zu welchem Todeslager fuhr sie? Diese ständige Anwesenheit des Holocausts war furchterregend, aber vermutlich ist sie typisch für Juden, die zum ersten Mal in Berlin sind.

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Orit isst Schokopudding im Cafe Kotti

Ist der eigentlich koscher? Skeptisch beäugt Orit ihren Schokopudding im Café Kotti in Berlin-Kreuzberg. Ein aus Israel stammender Berliner hat vor ein paar Jahren anhand der Preise von Schokopudding gezeigt, wie teuer das Leben in Israel ist - und wie viel bezahlbarer in Deutschland

Erst als ich dann ein Jahr später erneut nach Berlin kam, um mit einem Freund an einem Musikprojekt zu arbeiten, begann ich wirklich zu verstehen, warum es junge Israelis scharenweise nach Berlin zog. 

„Wir sind zwei Völker, die darum ringen, nach einem großen Trauma eine gestörte, aber irgendwie auch hochfliegende nationale Identität wiederaufzubauen“

Denn als ich den obligatorischen Besuch des Holocaust-Mahnmals und des Dokumentationszentrums „Topographie des Terrors“ hinter mir hatte, konnte ich mich ganz der kreativen, avantgardistischen und dabei so erstaunlich erschwinglichen Stadt zuwenden, die Berlin auch ist. Gelegentlich machten meine Freundin und ich noch Holocaust-Witze (etwa wenn uns ein verblüffend blauäugiger und blonder Deutscher über den Weg lief, der wie ein „arischer“ Posterboy aussah). Aber im Großen und Ganzen ging es jetzt eher darum, auszugehen und nette Einheimische kennenzulernen – ungeachtet dessen, dass sich in dieser Stadt einmal das Hauptquartier der SS befunden hatte. 

Während ich begann, Berlin immer mehr zu mögen, führte ich einige Interviews mit jungen Deutschen, die in Tel Aviv lebten, was ja in gewisser Weise Berlins israelische Schwesterstadt ist. Ich wollte herausfinden, ob diese Anziehung auf Gegenseitigkeit beruht. Selbstverständlich kam auch hier die Rede wieder schnell auf den Holocaust. Eine Frau sagte, ich könne ihre Generation nicht für die Sünden ihrer Väter und Großväter beschuldigen. „Ich war noch gar nicht geboren, als das geschehen ist“, sagte sie und beeilte sich einzuräumen, durchaus eine besondere Verantwortung für die Sicherheit der Juden von heute zu empfinden. 

Mir wurde klar: Deutsche und Israelis sind sich im Grunde recht ähnlich. Wir sind zwei Völker, die darum ringen, nach einem großen Trauma eine gestörte, aber irgendwie auch hochfliegende nationale Identität wiederaufzubauen. Und auch wenn wir von entgegengesetzten Seiten kommen, auch wenn wir einst Verfolger und Opfer waren, haben wir als die dritte Generation in beiden Ländern ein Päckchen zu tragen, das wir am besten zusammen auspacken.

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Fotoalbum mit Nazi vom Flohmarkt

Auf einem Flohmarkt in Berlin hat Orit dieses alte Fotoalbum gefunden, das sie mit einer gewissen Faszination durchblättert: Zwischen fröhlichen Familienfotos taucht ganz selbstverständlich immer mal wieder ein Bild auf, das jemanden in einer Nazi-Uniform zeigt

Die kreativen Schwingungen, der historische Reichtum (aber auch die Narben), die Leichtigkeit, mit der man sich durch die Stadt bewegen kann, und natürlich die im Vergleich zu Israel irrsinnig günstigen Lebensmittel und das ebenso billige Bier, das alles macht Berlin so beliebt bei jungen Leuten aus aller Welt: Australiern, Argentiniern, Briten und so weiter. Trotzdem, für einige meiner patriotischen israelischen Bekannten war es ein Schock, als ich ihnen eröffnete, meinen Sommer 2016 in Berlin verbringen zu wollen. Sie werden sich die Haare gerauft haben, als ich sogar damit anfing, in meinem Facebook-Status Herzchen-Emojis um Berlin herum einzubauen. Bis ich schließlich ankündigte, bleiben zu wollen – auf unbestimmte Zeit.

„Während ich in den USA aufwuchs, hörte ich über Deutschland mindestens so viele Horrorgeschichten wie über Israel Heldenlegenden“

Aber die Freude, die ich dabei empfinde, wenn ich hier durch die Straßen schlendere, ist tiefer. Es ist wie eine Umwandlung der Schmerzen und Ängste vor Deportation, Folter und Tod, die Juden hier früher empfunden haben müssen. Ängste, die ich nicht mehr haben muss. Statt Nazi-Transparenten sehe ich jetzt nur noch lauter schöne Schriftzüge von Cafés. Ich sehe auch keine „arisierten“ Wohnungen mehr, sondern Apartments, in denen ich gerne selber wohnen würde. Höre ich die deutsche Sprache, dann ist das für mich nur noch: eine Herausforderung. Nehme ich eine Bahn – zu welcher Party soll es gehen? 

Während ich in den USA aufwuchs, hörte ich über Deutschland mindestens so viele Horrorgeschichten wie über Israel Heldenlegenden. Daher wohl meine seltsame Vertrautheit und Verbundenheit mit diesem Land. Sosehr der jüdische Staat für mich ein modernes Wunder ist, so sehr gilt das auch für die Wiederverwandlung von Berlin in eine Kraft der Freiheit. 

Die Journalistin und Autorin Orit Arfa wurde in Los Angeles geboren und zog 1999 nach Israel, wo sie viel über die israelische Gesellschaft geschrieben hat. Ihr Debütroman „The Settler“ handelt von einer jungen Israelin, die 2005 gezwungen wird, ihr Haus in Gaza zu verlassen. In Berlin arbeitet sie derzeit an ihrem zweiten Roman, einer israelisch-deutschen Liebesgeschichte. www.oritarfa.com