Bereits um neun Uhr morgens heizt die Sonne dem Westjordanland mächtig ein. Bei über 30 Grad flimmert die Luft über den Straßen, trotzdem herrscht geschäftiges Treiben auf den Märkten und in den überfüllten Bussen. Keine Brise weht, kein Wind geht. Auch nicht in Al-Ram, einem Vorort Ramallahs, wo zwischen bunt bemalter Sperrmauer und weniger farbenfrohen Grenzposten das größte Fußballstadion der Autonomiegebiete liegt. Ein Stadion, in dem statt Werbebanner für Biermarken oder Energydrinks Plakate vom jetzigen Präsident Mahmud Abbas und dem ersten Präsidenten der Autonomiegebiete, Jassir Arafat, die Fassaden und Seitenränder des Platzes schmücken.
Dreimal die Woche gehe sie hier oder in Bethlehem zum Training, erzählt Dima Youssef. Auch jetzt, während des Ramadans, dem muslimischen Fastenmonat. „Die Spiele finden dann entweder nachts statt, nachdem man gegessen hat, oder kurz vor Sonnenuntergang, damit man danach sofort etwas trinken oder essen kann.“ Die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung, etwa 97 Prozent, sind Muslime.
Dima zuckt mit den Schultern. Sie betreffe das ja eigentlich nicht, sie sei sowieso Christin. Deswegen auch kein Kopftuch, sagt sie, lacht und zieht an ihrem Zopf. Aber es beeinflusse natürlich ihre Mitspielerinnen und damit die Energie des gesamten Teams, fügt sie etwas mürrisch hinzu. Insgesamt seien es eben keine einfachen Rahmenbedingungen hier, um professionell Sport zu treiben, findet die 23-Jährige.
Seit einem Jahr trainiert sie die Mädchen unter 19 Jahren – eine Aufgabe zwischen Hoffnung und Frustration
Dima spielt in der palästinensischen Fußballnationalmannschaft der Frauen. 2006 gegründet, konnte das Team viermal an der Fußball-Westasienmeisterschaft teilnehmen. Größere Wettkämpfe waren bislang nicht drin. Sie seien ein noch junges Team, sagt Dima, und keine von ihnen könne sich ganz dem Fußball widmen. Sie selbst müsse gleich zur Universität, dort studiere sie Journalismus. Fußball als Karriere? „Daran habe ich nie gedacht, das ist hier keine Option. Denn im Gegensatz zu Europa steckt hier kein Geld in den Clubs.“
Fragend blickt Dima auf das Mädchen neben sich, Gina Khnouf. Die nickt, seufzt und hebt leicht resigniert die Hände. Seit einem Jahr trainiere sie die Mädchen unter 19 Jahren, erzählt Gina, und das sei eine Aufgabe zwischen Hoffnung und Frustration. „So viele Talente bleiben hier ungenutzt. Selbst viele der Palästinenser wissen gar nicht, dass wir eine Frauenfußballmannschaft haben. Es ist ein Männersport – hier noch extremer als in Europa. Ich versuche, den Sport auch unter Frauen bekannt zu machen.“
Ein doppelt schwieriges Unterfangen: Sogar die männlichen palästinensischen Sportler haben aufgrund eingeschränkter Bewegungsfreiheit oder Visa-Erfordernissen Probleme, außerhalb der Autonomiegebiete zu spielen oder zu trainieren. Ganz zu schweigen von den Menschen in Gaza und von Mädchen, für die eine Auslandsreise, große Wettkämpfe und Trainingscamps meist ein Ding der Unmöglichkeit bleiben. Gegnerische Mannschaften müssen notgedrungen nach Palästina kommen – und das passiert selten. „2011 haben wir hier in Palästina gegen Japan gespielt, das war ein Highlight.“ Gina klingt stolz – und das, obwohl sie damals 19 zu 0 verloren haben.
Einerseits ist Fußball tief in der palästinensischen Gesellschaft verankert: Bereits 1928 wurde der erste Fußballverband gegründet, seit 1998 gehört die Männernationalmannschaft zur FIFA, einige Jahre später folgten die Frauen. Andererseits gilt der Sport, der Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Briten und jüdische Einwanderer ins Land gebracht wurde, manchen konservativen Palästinensern auch als „westliches Kulturgut”, das gemieden werden muss. Für Mädchen sind die Hürden ungleich höher: „Die meisten Familien sehen es nicht gerne, wenn ihre Töchter regelmäßig Teamsport treiben”, erzählt Dima. „Es geht um die Kleidung, um das Reisen in andere Städte oder Dörfer, um den Kontrollverlust der Eltern. Sie halten Fußball außerdem für rabiat und unpassend für uns.“
„Es mag ein Klischee sein, aber an Orten wie diesem hier hat Sport noch immer diese Kraft“
Yousef Zaghloul, einer der Trainer und zugleich Direktor der Abteilung für Frauenfußball in Al-Ram, kann dem nur zustimmen. „Für die meisten Mädchen ist mit 16 Jahren Schluss”, sagt er und klingt dabei ehrlich bekümmert. Eigentlich ist Yousef studierter Ingenieur, Fußball sei lediglich seine Leidenschaft von klein auf gewesen. „Ich habe eines Tages eine Gruppe von Kindern auf der Straße vor meinem Haus spielen sehen. Ein Mädchen war dabei – und sie war unglaublich gut! Ich war sehr beeindruckt und gleichzeitig sehr betrübt, denn ich wusste, dass sie höchstwahrscheinlich nie von ihrem Talent profitieren wird.“ Dieser Moment habe sowohl sein persönliches Leben als auch sein Heimatdorf Dura, unweit von Hebron zwischen jüdischen Siedlungen und Olivenbäumen gelegen, von Grund auf verändert, erklärt der Trainer. „Endlich wusste ich, wie ich wirklich etwas in meiner Gesellschaft bewirken könnte. Es mag ein Klischee sein, aber an Orten wie diesem hier hat Sport noch immer diese Kraft.“
Jahrzehntelanger Konflikt
Seit Gründung des Staates Israels im Jahre 1948 kommt es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und ihren arabischen Nachbarstaaten, den Palästinensern sowie radikalen Gruppierungen wie Fatah, Hamâs und Hisbollah. Bislang gab es mehrere Kriege und zwei große palästinensische Aufstände („Intifada“; Arabisch für Erhebung, Abschüttelung). Trotz internationaler Bemühungen für eine sogenannte Zwei-Staaten-Lösung, bei der ein autonomer palästinensischer Staat neben Israel angestrebt wird, sind die palästinensischen Gebiete bis heute in eine Vielzahl von Territorien eingeteilt, die teilweise von Israel besetzt und auch international nicht von allen Staaten als eigenständig anerkannt sind. Die Teilung der Stadt Jerusalem, die Hoheitsgewalt über den Tempelberg, das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge und der Bewohner des Gazastreifens, der israelische Siedlungsbau sowie die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Palästinenser sind nach wie vor ungelöste Streitpunkte. Der Nahe Osten ist von einer friedlichen Lösung weiter denn je entfernt.
Yousef gründete einen der ersten Mädchenfußballclubs Palästinas. Vorher habe er bereits zwei Teams von je 30 Jungs trainiert. Man kennt ihn, man vertraut ihm – und das sei unerlässlich, fügt er hinzu. Ohne ein bekanntes Gesicht passiere in diesem Landstrich gar nichts. Seit Yousefs Initiative hat sich der Sport Schritt für Schritt im Land verbreitet, mittlerweile zähle man immerhin 28 Clubs für Frauen. Für Mädchen bietet der organisierte Teamsport eine Möglichkeit, auch neben der Schule das Elternhaus zu verlassen, wovon sie offenbar gerne Gebrauch machen. „Ich habe bemerkt, dass sie – im Gegensatz zu den Jungen – immer mindestens eine halbe Stunde vor Trainingsbeginn da sind und auch nichts dagegen haben, wenn wir länger spielen als geplant. Das ist ihre Ausgehzeit, ihre Gelegenheit, einen Abend mit Freundinnen zu verbringen.“
Damit es überhaupt so weit kommen konnte, musste Yousef reichlich Überzeugungsarbeit leisten: Viele Tassen Kaffee und Tee, unzählige Torten und Kekse habe er im Namen des Fußballs mit besorgten Müttern und noch besorgteren Vätern essen und trinken müssen. „Ich habe oft Erfolg, sie von der Sicherheit des Umfelds zu überzeugen”, sagt er mit Nachdruck. Besonders gerne erinnere er sich an die beiden Spielerinnen, die vorher noch nie im Ausland gewesen waren und die er 2014 sogar zur Fußballweltmeisterschaft nach Brasilien mitnehmen durfte, um dort bei der Eröffnungsfeier für die palästinensischen Gebiete die Fahne hochzuhalten. Es habe jedoch auch viele Fälle gegeben, in denen die Mädchen ab der Pubertät auf Wunsch der Familie ausscheiden mussten. „Häufig war ich nicht in der Lage, den genauen Grund herauszufinden. Die Kleidung? Das kann man ja anpassen. Die Reisen? Der Sport selbst? Es gehörte sich einfach nicht, Ende der Diskussion.“
Solche Restriktionen seien ihr glücklicherweise erspart geblieben, erzählt Dima. Als palästinensische Christin habe sie eine in vielerlei Hinsicht liberalere Erziehung als ihre muslimischen Freundinnen genossen. Für die Studentin waren es eher politische und wirtschaftliche Hinderungsgründe, die sie davon abgehalten haben, den Sport als etwas anderes denn als eine persönliche Leidenschaft zu betrachten: „Ich liebe das Spiel, aber es gibt so wenig Unterstützung: keine Stipendien, keine Sponsoren, keine Investoren.“
Auch Yousef arbeitet bis zu diesem Tag ehrenamtlich, ebenso wie Gina. Dafür müsse man wirklich an den Sinn der Sache glauben, betont er. Er tue das für die nächste Generation: nicht mehr und nicht weniger. Sie mache es lediglich zum Spaß, sagt Dima und muss lachen – „nicht mehr und nicht weniger“. Ihr Lieblingsclub sei übrigens Borussia Dortmund aus Deutschland. „Die würde ich gerne mal spielen sehen. Was meint ihr, vielleicht kommen sie ja mal nach Al-Ram?”