Als der amerikanische Psychologieprofessor Robert Levine einen Posten in Brasilien annahm, fragte er seine künftige Chefin, ob sie nicht auch eine Arbeit für seine Freundin wüsste. Kein Problem, sagte sie, telefonierte ein wenig, sagte dann, Levine und seine Freundin sollten am nächsten Morgen um Punkt neun vor ihrem Haus stehen. Ein Chauffeur würde sie zu einem Vorstellungsgespräch fahren. Nur kam kein Chauffeur. Levine fragte andere Bekannte in Brasilien, alle zeigten sich freundlich, alle wollten Vorstellungsgespräche für die Freundin arrangieren, alle bestellten einen Chauffeur – auf den Levine stets vergebens wartete, jedes Mal ein bisschen verärgerter. War der Professor in einem Land der Lüge gelandet?
Kulturelle Missverständnisse dieser Art gibt es zuhauf. Es gibt wohl kein Volk, das sie nicht kennt, die Lüge. So viel steht fest. Aber da scheinen die Gemeinsamkeiten bereits aufzuhören. Denn was als Lüge gilt und was als reine Gepflogenheit und welche Arten der Unwahrheit verzeihlich sind und welche keineswegs, das fällt erstaunlich verschieden aus.„Als ich einem brasilianischen Freund unsere enttäuschenden Erfahrungen schilderte, erklärte er mir, was mein Fehler in dieser Sache war“, schreibt Levine in seinem Buch „Eine Landkarte der Zeit“. „Ein ‚Ja‘ bedeutet häufig ein ‚Nein‘, und für Brasilianer ist es wichtiger, hilfsbereit und höflich zu wirken, als ihre Versprechen zu halten. Dann tadelte mich mein Freund, weil ich meine Kollegen durch eine Bitte, die sie weder ablehnen noch erfüllen konnten, in Bedrängnis gebracht hatte.“ Unpünktlichkeit sei in Brasilien verzeihlich – und gar nicht erst zu erscheinen einfach die extremste Form der Unpünktlichkeit. Niemand würde die Verabredung deshalb für eine Lüge halten.
Manch ein Reiseführer warnt davor, in Japan unbedacht nach dem Weg zu fragen. Denn viele Japaner geben eher eine falsche Antwort, als sich die Blöße zu geben, ihr Nichtwissen eingestehen zu müssen – was übrigens auch ein schlechtes Licht auf den Fragenden wirft: Er hätte sich an eine kundigere Person wenden sollen, um beiden die peinliche Situation zu ersparen. Die kleine Lüge ist hier das geringere Übel, damit beide ihr Gesicht wahren können. Merkwürdig? „Nur aus westlicher Sicht ist das um die Ecke gedacht“, sagt die Psychologieprofessorin Jeannette Schmid, die an der Universität Frankfurt/Main zu Lügen geforscht hat. Jede Kultur billige ein gewisses Maß an Unehrlichkeit im Alltag, sie gehört zu Höflichkeit und Etikette dazu, nur der Zuschnitt falle verschieden aus. Selbst innerhalb westlicher Länder ist das Verständnis von Alltagslügen keineswegs gleich. Eine Amerikanerin, sagt Schmid, würde auf die Frage „Wie geht’s“ nie eine ehrliche Antwort erwarten. Eine Deutsche auch nicht unbedingt – aber sie wäre weniger erstaunt, wenn sie als Antwort ein Klagelied über die letzte Darmspiegelung vorgetragen bekäme.
Ein Forscherteam um den Psychologen Kang Lee von der Universität Toronto verglich in einer Studie, wie Kinder aus Kanada und China mit der Lüge umgehen – mit erstaunlichen Ergebnissen. Die Forscher erzählten den Kindern folgende Geschichte: Ein Junge hatte auf dem Weg zur Schule sein Essensgeld verloren, ein Klassenkamerad namens Mark will helfen und steckt ihm heimlich etwas von seinem Geld zu. Die Lehrerin bemerkt es und fragt Mark: „Hast du ihm das Geld gegeben?“
„Nein“, sagt der.
Alle Kinder, die die Forscher befragten, sowohl die kanadischen als auch die chinesischen, lobten Marks selbstloses Verhalten. Aber wie sah es mit ihrer moralischen Bewertung des Lügens aus?
Die kanadischen Kinder missbilligten die Lüge. Die jüngeren chinesischen Kinder ebenfalls, doch ab einem gewissen Alter scheint sich diese Haltung zu ändern. Die älteren der befragten Chinesen beurteilten die Lüge positiv. Ähnliche Ergebnisse brachte auch eine Studie mit thailändischen Probanden. Die Forscher erklärten ihre Ergebnisse damit, dass die konfuzianische Kultur Zurückhaltung wesentlich höher achtet, als dies die westliche Kultur tut. Bescheidenheit zählt mehr als Ehrlichkeit – und ab einem gewissen Alter scheinen die Kinder das verinnerlicht zu haben.
Die Lüge als Schmiermittel für den Alltag
Es gibt viele Experimente dieser Art. Kulturpsychologen führen die Unterschiede unter anderem darauf zurück, dass Gesellschaften kollektivistisch oder individualistisch geprägt sein können, dass also eher die Rechte und das Wohlergehen der Gruppe oder des Einzelnen entscheidend sind. Solche Unterscheidungen sind immer holzschnittartig, die Übergänge sind fließend, und längst nicht alles passt in ein solches Schema. Dennoch: Manche groben Muster im Umgang mit der Wahrheit lassen sich damit gut erklären. „In individualistischen Kulturen herrscht die Idee einer feststehenden Persönlichkeit“, sagt Lügenforscherin Schmid. Die Unwahrheit zu sagen ist immer ein Charaktermakel – unabhängig von der Situation. „Kollektivistische Kulturen betonen viel stärker den Kontext, der definiert, welches Verhalten für den Einzelnen angemessen ist.“ Eine kleine Alltagslüge wie die von Mark erscheint angemessen, weil sie den Werten der Gruppe dient. Sie ist wie ein Schmiermittel, das den Umgang der Menschen miteinander geschmeidig macht.
Lügen sind immer auch ein Ausweg aus einem moralischen Dilemma, das je nach den vorherrschenden Werten eines Menschen, einer Gruppe, einer Kultur auch ganz anders gelöst werden könnte. Kein Wunder, dass die Religionen der Welt ebenfalls ganz unterschiedlich mit der Lüge umgehen. Die griechischen Götter etwa intrigierten fleißig gegeneinander, da machte es kaum etwas aus, wenn der Mensch auch mal nicht ganz aufrichtig war.
In den Offenbarungsreligionen wie dem Judentum oder dem Christentum ist das Lügenverbot schon strikter. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, hat Gott Moses als achtes Gebot auf die Steintafel geschrieben; an anderen Stellen ist noch deutlich von der Verwerflichkeit der Lüge die Rede. Interessant ist allerdings, wie wenig sich der Gott des Alten Testaments um die Einhaltung dieses Grundsatzes schert. Als etwa die Israeliten im ägyptischen Exil sind, befiehlt der Pharao ihren Hebammen, alle männlichen Nachkommen zu töten. Die halten sich nicht daran und tischen dem Herrscher die Lüge auf, sie kämen immer viel zu spät ans Wochenbett. Die israelitischen Frauen würden einfach so schnell ihre Kinder gebären. Dem Herrn gefällt die List: „Gott verhalf den Hebammen zu Glück; das Volk aber vermehrte sich weiter und wurde sehr stark“, schreibt die Bibel.
Zu einem ehernen Grundsatz, so die deutschstämmige US-Autorin Evelin Sullivan, wird das Lügenverbot erst später. „Unsere moderne westliche Auffassung, dass das Lügen – ungeachtet seiner Zweckdienlichkeit und Nützlichkeit – an sich etwas Schlechtes ist, hat viel mit der veränderten Wahrnehmung zu tun, die ihre Wurzeln im Neuen Testament hat.“ Denn für Jesus galt: Über die moralische Qualität entscheidet eher die innere Haltung als die Frage, ob man äußere Regeln befolgt.
Aber auch mit einem strikten Verbot der Unwahrheit kommt eine Gesellschaft nicht weiter. Deswegen haben die Theologen auch fleißig nach Auswegen gesucht. Der spätantike Kirchenlehrer Augustinus erfand acht unterschiedliche Arten der Lüge, alle sündhaft und schlimm, aber nicht alle im gleichen Maß. „In allen Zeiten und Kulturen versucht man, sich Freiräume vom Lügenverbot zu schaffen“, sagt die Frankfurter Forscherin Jeannette Schmid. „Das weist darauf hin, dass die menschliche Gesellschaft ohne Lüge schwer möglich wäre.“
Bernd Kramer schreibt als freier Autor unter anderem für die „Zeit“, „Neon“ und die „taz“. Als studierter Volkswirt und Soziologe beschäftigt er sich in seinen Texten gerne mit den großen Fragen der Gesellschaft.