Alte Wunden heilen schlecht. Wer in den Jugoslawienkriegen in den Neunzigern Familie, Freunde, Zuhause verlor, wen Kriegsverletzungen plagen – für all die Menschen brennen die Narben noch. Innerhalb Europas gilt der Konflikt als der dunkelste seit dem Zweiten Weltkrieg: Die ehemaligen Bruderstaaten der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien lieferten sich erbitterte Unabhängigkeitskriege, bei denen mindestens 140.000 Menschen starben und etwa vier Millionen vertrieben wurden.
„Der Krieg betrifft mich nicht“
Für die 600 kroatischen Teilnehmer des „Partyzugs“ von Zagreb nach Belgrad hätte der Krieg auch anno dazumal bei den alten Römern stattfinden können. Denn die meisten von ihnen sind nach 1995 in Kroatien oder Bosnien geboren.
„Mein Vater hat gegen die Serben gekämpft, um seine Heimat zu schützen. Gehasst hat er sie eigentlich nicht, er hasst sie auch heute nicht“, sagt Tommy Brstilo, 19. Er studiert gerade Ingenieurwissenschaft und Programmieren in Zagreb. Sein Vater habe ihn dazu ermutigt, diese Zugfahrt zu machen, denn Belgrad sei eine so schöne Stadt. „Klar gibt es noch die Extremisten, die tatsächlich denken, dass der Krieg noch weitergeht. Ich wurde nach Kriegsende geboren. Der Krieg betrifft mich nicht. Ehrlich gesagt versteh ich gar nicht, worum es da eigentlich ging“, sagt Brstilo.
Gen Mitternacht trudeln Reisende nach und nach ein, ausgestattet mit kleinen Köfferchen und Taschen voller Alkohol. Viele Studenten und Studentinnen nehmen sich für den Partyzug ein verlängertes Wochenende frei, bevor sie wegen der Arbeit keine Zeit mehr dafür haben. Die meisten trinken, manche sind schon betrunken, sie schießen Selfies, singen Lieder und tanzen auf dem Bahnsteig. Ein paar haben Bluetooth-Boxen für ihre Handymusik dabei, einer hat sogar die großen Lautsprecher auf Rädern mit.
Der Zug fährt erst um drei Uhr früh los, die Party beginnt aber schon Stunden vorher. Internationale Popsongs laufen auch, aber die krasse Party geht da ab, wo die Balkan-Beats gespielt werden. Vor allem bei serbischem Turbofolk: einer Melange des 21. Jahrhunderts, einem Mix aus westlichem Pop, türkischen Rhythmen und Balkan-Folk. Der dazu passende Tanzstil: Pumper-Faust mit orientalischem Körperkreisen und Wirbelbewegungen der emporgereckten Arme.
Für die Älteren: verdächtig serbisch
Für viele ältere Kroaten klingt diese Art von Musik nach orientalischem Kitsch und verdächtig serbisch. Denen, die nach dem Krieg geboren sind, ist das egal. Auf die Musik lässt sich gut tanzen. „Ich mag jede Art von Musik“, sagt Marin Bilic, 20, Jurastudent in Rijeka. „Egal ob Hip-Hop oder Rihanna, ich tanz dazu und steh nicht still. Aber Turbofolk ist das Beste, weil man alles rauslassen kann, einfach tanzen, singen, alles fühlen, was du willst.“
Die unangefochtene Königin des Turbofolks ist Svetlana Ražnatović, besser bekannt als „Ceca“. Ceca ist nicht gerade berühmt für politische Korrektheit. Nicht zuletzt, weil sie die Witwe von Željko „Arkan“ Ražnatović, einem hochrangigen Kriminellen und paramilitärischen serbischen Anführer, ist. Ražnatović wurde 2000 in Belgrad ermordet, bevor er vor dem Kriegsverbrechertribunal für seine Vergehen an der Menschheit in Kroatien und Bosnien zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Ceca hat in Kroatien Auftrittsverbot. Gespielt wird ihre Musik in den Kneipen und Clubs trotzdem.
Von der gemeinsamen Geschichte kaum eine Ahnung
Kroaten und Serben sprechen praktisch dieselbe Sprache und haben über 70 Jahre zusammen gelebt, erst im Königreich Jugoslawien, später in der Sozialistischen Föderativen Republik. Die Party-Reisenden haben nur eine vage Ahnung von der gemeinsamen Geschichte, Details kennen sie nicht.
Belgrad: größer und billiger als die Heimat
Drei Tage lang blieben die Kroaten in Belgrad, um zu trinken, Clubs zu entdecken und Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Die ehemalige Hauptstadt Jugoslawiens ist größer und billiger als Zagreb. Belgrad wird auch ein immer beliebteres Reiseziel in Europa, bekannt vor allem für das bunte Nachtleben. Junge Kroaten feiern auch lieber in der bröckelnden Grandeur der unrestaurierten serbischen Hauptstadt als im eher farblosen Zagreb.
„Alles ist am Arsch, na und? Wir können immer noch trinken“
„In Kroatien sind die Menschen ein bisschen steifer“, erklärt Branko Paunovic, der 29-jährige Besitzer der „Fun Factory“, die die Touren nach Belgrad organisiert. „Wir sind uns nicht einig darüber, wer wir eigentlich sind“, sagt er. „Die eine Hälfte hält sich für Europäer und will nicht mehr zum Balkan gehören. Die anderen denken, dass wir sehr wohl dazugehören und das endlich akzeptieren müssen. Irgendwie sind wir eine Mischung, gerade weil wir an der Grenze zwischen Europa und dem Balkan leben.“
Paunovic, geboren und aufgewachsen in Kroatien, wurde in einem kroatisch-serbischen Elternhaus groß. Der größte Unterschied zwischen den beiden Nationen sei doch der, dass die Serben entspannter und humorvoller gegenüber ihrem Schicksal seien. Er beschreibt die Mentalität der Serben so: „Wir sind im Balkan, alles ist am Arsch, na und? Wir können immer noch trinken.“