Derek Adams ist psychisch labil und leidet unter Depressionen. Mit Hoffnung auf Linderung nimmt er an einer Medikamentenstudie teil. Getestet wird hier ein neues Antidepressivum.
Während der Studie verlässt ihn seine langjährige Freundin, ein endgültiger Zusammenbruch in Adams’ Welt. Mit fast 30 Tabletten des Studienmedikaments will sich der 26-Jährige das Leben nehmen. Im ersten Moment scheint alles zu klappen. Der Blutdruck fällt, er erleidet einen Kollaps. Ein Freund findet den jungen Mann und fährt ihn ins Krankenhaus. Nach einigen Stunden Überlebenskampf in der Notaufnahme stellt sich heraus: Adams ist nur ein Kontrollpatient der Studie und hat einen Haufen wirkungslose Pillen eingenommen. Zur Blitzheilung reicht jetzt ein Gespräch. Als der junge Mann erfährt, dass er keine tödliche Dosis geschluckt hat, verschwinden seine Symptome wieder. Kurze Zeit später verlässt er das Krankenhaus.
Entdeckt wurde der Effekt bereits Mitte des 20. Jahrhunderts bei Medikamentenstudien. Probanden, die nur ein Scheinmedikament eingenommen hatten, klagten plötzlich über Nebenwirkungen. Dafür genügten Informationen über mögliche Risiken. Lange zählte man solche Beobachtungen zum Placeboeffekt. Erst vor 15 Jahren bekam das Kind einen eigenen Namen und wird seither vorsichtig erforscht. Eine große Hürde dabei: Die Wissenschaftler können die Beschwerden der Patienten nicht gezielt durch Fehlinformationen vergrößern. In Nocebostudien werden deshalb häufig die „Symptome“ des Phänomens untersucht. So zeigten Forscher am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, wie einflussreich allein die Erwartung von Schmerzen sein kann. Sie gaben Freiwilligen ein Schmerzmittel, informierten über die gute Wirkung und verabreichten ihnen Hitzereize auf dem Unterarm. Die Schmerzen wurden kaum wahrgenommen. Im zweiten Durchgang erklärten die Ärzte das gleiche Mittel für wirkungslos. Die Schmerzempfindlichkeit stieg rapide.„Falsch interpretierte Informationen und Ängste sind die Hauptauslöser für den Noceboeffekt“, erklärt Paul Enck, Professor für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Tübingen. Nocebo – das ist eine Art böser Bruder des Placeboeffekts. Während beim Placebo allein eine optimistische Erwartung Schmerzen lindert, etwa nach der Einnahme eines eigentlich wirkungslosen Medikaments, löst beim Nocebo allein die Angst vor Krankheiten oder Nebenwirkungen Unbehagen beim Patienten aus.
Schon vor Beginn der Chemotherapie wurde Patienten übel
Die Erklärung: Im Gehirn werden durch negative Erwartungen weniger Dopamin und körpereigene Opioide freigesetzt, die Schmerzempfindlichkeit steigt. In der Fachliteratur finden sich noch drastischere Fälle, wie der von Sam Shoeman. Bei ihm diagnostizierten die Ärzte Leberkrebs im Endstadium. Er, seine Familie und auch seine Ärzte glaubten, dass er nur noch wenige Monate zu leben hatte, und tatsächlich starb Shoeman kurze Zeit später. Die Überraschung kam bei der Obduktion: Sein Tumor war mit zwei Zentimetern eher klein und ohne Metastasen ungefährlich. Clifton Meador von der Vanderbilt-University hat solche Extremfälle des Nocebos untersucht und schreibt dazu: „Der Mann starb nicht an Krebs, sondern daran, dass er glaubte, an Krebs zu sterben.“
Das ist ohne Frage ein Extrembeispiel, doch zeigt es, welchen Einfluss der Noceboeffekt haben kann. Besonders problematisch wird es, wenn er einer Therapie im Weg steht. „Gerade langwierige Behandlungen gegen Krebs oder Bluthochdruck werden häufig wegen Nebenwirkungen abgebrochen“, sagt Meike Shedden-Mora, Psychotherapeutin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Oft sei unklar, ob die Beschwerden tatsächlich Nebenwirkungen der Therapie sind oder lediglich auf negativen Erwartungen beruhen. Onkologen berichten häufiger, dass Patienten schon vor der Chemotherapie übel wird und sie sich Tage vorher oder auf dem Weg ins Krankenhaus übergeben müssen.
In Hamburg forschen Shedden-Mora und ihre Kollegen an einer therapeutischen Begleitung der Nebenwirkungen und Möglichkeiten zur Noceboprävention. Ein wichtiger Lösungsansatz ist dabei eine bessere Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Studien zeigen, dass das Risiko für Noceboeffekte und die Nichteinnahme von Medikamenten steigt, wenn Patienten den ärztlichen Rat falsch verstehen oder ihm misstrauen. „Die Ärzte stehen im Alltag vor einem Dilemma“, erklärt Shedden-Mora. Einerseits müssen sie über Risiken aufklären. Andererseits verängstige zu viel Wissen über schwere, aber sehr unwahrscheinliche Nebenwirkungen die Patienten unnötig. Um solche Missverständnisse zu vermeiden, sollten Ärzte aus ihrer Sicht den Nutzen einer Behandlung ausführlicher erklären. Und zwar positiv: „Die meisten Patienten vertragen das Medikament gut“ statt „Fünf Prozent bekommen Nebenwirkungen“.
Doch gerade die richtige Gesprächsführung kommt in der Ausbildung von Medizinern, Krankenschwestern und Apothekern häufig zu kurz – und wird innerhalb des Gesundheitssystems auch nicht gefördert. So bekommt ein Arzt für die intensive Aufklärung seiner Patienten kein Geld, nur für Diagnose und Therapie. Die Konsequenz: Ein Arzt nimmt sich durchschnittlich weniger als zehn Minuten Zeit für den Patienten. Aus Sicht von Kritikern viel zu wenig, um Befunde genau und verständlich zu erklären. Nachholbedarf sieht Shedden-Mora auch bei den Beipackzetteln. „Die positiven Wirkungen finden dort nur wenig Platz. Eine Umfrage unter Schmerzpatienten ergab, dass viele Patienten die Informationen bewusst nicht lesen“, sagt sie. Sie scheuen schlichtweg die Konfrontation mit den Risiken.
Stattdessen äußerten die Befragten den Wunsch, nur über für sie relevante Nebenwirkungen aufgeklärt zu werden. Von einer individuellen Patientenaufklärung ist die Praxis weit entfernt. Heutige Beipackzettel listen dichtbedruckt Nebenwirkungen und Warnhinweise auf, möglichst unverständlich gemacht durch medizinische Fachbegriffe und unklare Risikoangaben, teils unwahrscheinlicher als vom Blitz getroffen zu werden. Das sichert zwar die Pharmaunternehmen juristisch ab – liefert aber auch eine Steilvorlage für den Noceboeffekt.
Birk Grüling schreibt als freier Journalist unter anderem für die „Zeit“, die „taz„, jetzt.de und Spiegel Online. 2014 wurde er vom Medium Magazin unter die Top 30 der Nachwuchsjournalisten gewählt.