Der 8. Juli 1990 war ein perfekter Abend. In der 85. Minute verwandelte Andreas Brehme den Elfmeter gegen Argentinien. Kurze Zeit später stemmte Lothar Matthäus den Pokal in den Himmel, bevor Franz Beckenbauer gedankenversunken einsame Runden im Olympiastadion von Rom drehte. Deutschland war Fußballweltmeister, und wir waren dabei. Mein Vater und ich hatten das Finale auf einem 33 Zentimeter großen Bildschirm mit Zimmerantenne verfolgt, ich war damals acht Jahre alt. Wir freuten uns über den Sieg Deutschlands genauso wie unsere neuen Landsleute, die hupend und jubelnd die Hauptstraße rauf und runter fuhren.
Dabei war uns dieses Land noch sehr fremd. Erst kurze Zeit zuvor sind meine Familie und ich auf dem Düsseldorfer Flughafen gelandet. Die Bundesrepublik hat uns aufgenommen, wie sie es bis heute mit den rund 2,5 Millionen anderen hauptsächlich Ex-Sowjetbürgern deutscher Abstammung und ihren Familienmitgliedern getan hat, die insbesondere aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR noch zurückkehren sollten. Zurück – ein komisches Wort in diesem Zusammenhang.
200 Jahre lang lebten unsere Vorfahren fernab ihrer Wurzeln: in Russland, der Ukraine, Kasachstan und all den anderen Republiken des Vielvölkerstaates. Einst hatte die russische Zarin Katharina die Große die von Krieg und Hunger gebeutelten Deutschen eingeladen, dort ihr Glück zu suchen. Viele fanden es auch, als Bauern, Handwerker und Händler. Die beiden Weltkriege und der stalinistische Terror setzen der deutschen Minderheit arg zu. Erst ab dem Ende der 1950er-Jahre konnten die Russlanddeutschen allmählich ein Leben in Frieden und relativer Freiheit führen.
Doch der Westen lockte, und so leben heute nur noch wenige Deutsche in der ehemaligen UdSSR. Die Hoffnung auf Wohlstand und die Ängste vor dem Umbruch machten vielen die Entscheidung nicht besonders schwer.
Zwei Container mit all unseren Besitztümern trafen kurze Zeit nach uns ein. In dem einen war ein Lada, den auf dem Transportweg wohl eine Bande ausgeschlachtet hatte. In dem anderen befanden sich eine Nähmaschine, Wandteppiche und Haushaltsgegenstände, mit denen wir unser kleines Zimmer in der Notwohnung vollstellten, das uns die Stadt Meerbusch bei Düsseldorf übergangsweise für eine kleine Miete überlassen hatte. Anderthalb Jahre sollten mein Vater, meine Mutter, meine kleine Schwester und ich gemeinsam auf diesen 15 Quadratmetern leben, bis wir uns eine richtige Wohnung leisten konnten.
Russische Kultur: Für mich damals so attraktiv wie mein klappriges Fahrrad
Der Anfang war schwer. Die Eltern fanden aber bald Arbeit und traten einem Schützenverein bei. Spätestens nach dem ersten Jahr in der Schule sprachen meine Schwester und ich kein Russisch mehr, nicht einmal mit Mama und Papa. In vielen russlanddeutschen Familien versuchen die Eltern mit ihren Kindern ausschließlich Deutsch zu reden, um die Sprachkenntnisse zu trainieren. Bei uns war das genau anders herum. Immer wieder ermahnten sie uns: „Ihr dürft die Sprache nicht vergessen, sie wird einmal euer Kapital sein.“
Für mich war die russische Kultur in etwa so attraktiv wie mein klappriges Fahrrad sowjetischer Bauart, das ebenfalls in dem Container aus der alten Heimat mitgekommen war. Die Ablehnung war sicher weniger auf ein grundsätzliches Problem mit der eigenen Herkunft zurückzuführen als auf den natürlichen Prozess der Selbstfindung eines jungen Menschen. Meiner Familie hat die Migrationsgeschichte im Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft jedenfalls nie geschadet. Doch nicht alle haben dieses Glück.
Wie andere Migranten klagen auch Russlanddeutsche über Vorurteile und Diskriminierung aus der Bevölkerung. „In Russland waren wir die Deutschen, in Deutschland sind wir die Russen“, lautet eine gängige Formel von (Spät-)Aussiedlern, um ihre Stellung innerhalb der beiden Gesellschaften zu beschreiben.
Der Frust ist verständlich. Für viele Russlanddeutsche haben sich nicht alle Hoffnungen erfüllt. Laut einer aktuellen Studie blieben zwar nur wenige von ihnen arbeitslos, gerade Ältere und Akademiker konnten aber oft nicht an ihre beruflichen Laufbahnen von früher anknüpfen. Ingenieure wurden nicht selten zu Arbeitern am Band degradiert, Lehrerinnen fanden in Deutschland nur noch Arbeit als Kassiererinnen und Putzfrauen.
Wir sind heute die größte Einwanderergruppe in Deutschland. Obwohl die Integration inzwischen besser funktioniert als noch zu Beginn der Einreisewelle, bleibt die Schicksalsgemeinschaft gerne unter sich. Ihre Lebensmittel kauft sie in russischen Supermärkten, zum Feiern geht es in russische Diskotheken, die man aber nicht mit der Partyreihe des Vorzeigerussen Wladimir Kaminer verwechseln darf. Die allermeisten pflegen zudem enge Kontakte zu Freunden und Verwandten, die geblieben sind.
Auch meine Familie hat noch Verwandtschaft in der Nähe von Moskau und in Almaty (Kasachstan), wo meine Schwester und ich geboren wurden. Erst zwölf Jahre nach unserem Umzug nach Deutschland besuchten wir sie zum ersten Mal wieder, sonst fuhren wir lieber nach Spanien oder Italien, wo es warm ist. Inzwischen bedaure ich ein wenig, diesen Teil meiner Herkunft und die unfassbar reiche Kultur des Landes so lange vernachlässigt zu haben. Trotz eines Slawistik-Studiums und einiger weiterer Reisen dorthin wächst die Entfremdung – was nicht nur an der räumlichen Trennung und den geopolitischen Differenzen liegt.
Bei meinem vorerst letzten Besuch in Russland hatten der Mann meiner Kusine und ich einen Streit – zuerst über Homosexuelle, dann über das Ende des Zweiten Weltkriegs. Schwule und Lesben sollen machen, was sie wollen, aber bitte nicht in der Öffentlichkeit, meinte der pensionierte Armee-Offizier. Spätestens als ich seiner Ansicht widersprach, wonach die Sowjetunion Deutschland ganz allein vom Naziregime befreit hat, wäre der warme Sommerabend mit Bier und trockenem Fisch auf dem Balkon beinahe ungemütlich geworden.
Manchmal stelle ich mir insgeheim selbst die Frage, was aus mir geworden wäre, wäre ich doch in diesem riesigen und chaotischen Land aufgewachsen. Vielleicht würde ich am „Tag des Sieges“ bei den Militärparaden begeistert den Soldaten der russischen Armee zuwinken, wie ich das als kleiner Junge getan habe. Vielleicht würde ich als Journalist freundliche Texte über den russischen oder kasachischen Präsidenten schreiben. Vielleicht würde ich in einer grauen Vorstadtsiedlung wohnen und am Wochenende meinen Lada waschen? Die Wahrheit ist: Nichts davon kann ich mir ernsthaft vorstellen.
Wenn meine Schwester und ich früher unsere Eltern gefragt haben, warum wir eigentlich nach Deutschland gekommen sind, sagten sie meistens: Wir haben es für euch Kinder getan. Hinter uns fiel ein Staat in sich zusammen, der uns bis dahin eine recht sichere Existenz garantiert hatte. Danach war alles anders. Für uns und die Menschen, die wir zurückgelassen haben.
Andreas Pankratz wurde 1981 in der damaligen Hauptstadt Kasachstans Almaty geboren und arbeitet als freier Journalist in Köln. Die Vorfahren seines Vaters sind deutschstämmig und lebten in der Ukraine, bevor die Familie während des Zweiten Weltkriegs an den Ural deportiert wurde. Seine Mutter ist Russin und wohnt heute in Mönchengladbach.