Ich war noch nicht lange in Wolgograd, wo ich Russisch lernen wollte, als jemand eines Tages gegen die Wand unserer Studentenbude schlug und von der anderen Seite rief: „Job’ tvoju matj! Jobannij v rot, bljad’!“ Ich verstand kein Wort, aber es klang schön, fast so melodisch wie ein Lied. Ich fragte meinen Zimmergenossen Pascha, was denn unser Nachbar gerufen habe. Er räusperte sich kurz und sagte dann: „Fick deine Mutter! In den Mund gefickt, Schlampe!“
Das war erstaunlich, denn ich hatte gar keinen Streit mit dem Nachbarn gehabt. Aber das, so erklärte mir Pascha, sei auch gar nicht nötig. Manche Russen würden einfach unheimlich gern fluchen, je heftiger, je lieber. Es gebe sogar ein Wort für diese Leidenschaft: „Mat“. Mat bedeutet so viel wie „Mutterfluch“, geht aber auf die Redewendung „orat’ blagim matom“ zurück, was „lautes Geschrei“ bedeutet.
Und Mat ist tatsächlich laut. Laut, derb und oft unter der Gürtellinie. Es ist eine Art Parallelsprache neben dem gesellschaftsfähigen Russisch, die besonders hingebungsvoll von Männern gebraucht wird, um zu fluchen, zu beleidigen oder seinen Emotionen mit obszönen Kraftausdrücken Ausdruck zu verleihen. Und das unabhängig vom sozialen Status – wenngleich Mat öfter von Arbeitern zu hören ist. „Was haben Mat und Diamat (dialektischer Materialismus) gemeinsam?“, hieß es zur Zeit der Sowjetunion. Antwort: „Beides sind mächtige Waffen des Proletariats.“
Zur Entstehung von Mat gibt es die Theorie, dass die Vulgärsprache als Gegenmittel zur rigiden Sexualmoral der orthodoxen Kirche gedient habe. Daher tauchten besonders viele sexuell konnotierte Wörter im Mat auf: Chuj (Хуй) meint Schwanz, also das männliche Geschlechtsorgan. Pizda (Пизда) ist ein vulgäres Wort für das weibliche Geschlechtsorgan, Ebat’ (Ебать) ist das lautmalerische Verb für Geschlechtsverkehr (in etwa wie ficken oder bumsen), und bljad’ (Блядь) bedeutet „Schlampe“. Letzteres wird auch gern als Füllwort benutzt, was dann so klingt: „Der, Schlampe, hat mir, Schlampe, aber wieder ordentlich eins, Schlampe, auf die Fresse gegeben, Schlampe.“
Es stimmt, die Sprache ist sehr sexistisch, aber bei aller Derbheit auch wunderbar kreativ. Wenn jemand verschwinden soll, sagt man: „Poshel ty na chuj!“ Wörtlich: Geh zum Schwanz! Im Zuge der Ukraine-Russland-Krise kam die Redewendung „Putin chyjlo!“ auf, mit der man feststellt, dass der russische Präsident zum Schwanz geworden ist. Und wenn man eine Tatsache mit besonderem Nachdruck betonen will, sagt man: „Gefickte Kraft (jebicheskaja sila)!“ „Bez tebja pisdez“ heißt ein Song der Sankt Petersburger Punk-Band Leningrad. „Ohne dich ist alles Fotzendreck“ – politisch korrekt: „Ohne dich macht alles keinen Sinn!“ Die Band um den
Sänger Sergej Schnurow hat Mat zum Kult erhoben. „Das ist eine Volkskultur“, sagt Schnurow.
Die aber hat den Obrigkeiten nie gepasst. Bereits das Zarenreich hatte das Mat tabuisiert. Und erst im vergangenen Jahr hat die Duma ein Gesetz erlassen, nach dem der Gebrauch der Vulgärsprache in Medien und öffentlichen Aufführungen strafbar ist. Von solchen Verboten haben sich die russischen Kulturschaffenden aber noch nie beeindrucken lassen. Der russische Nationaldichter Alexander Puschkin fluchte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ausführlich in seinen Gedichten, so in „Der Wagen des Lebens“: „Am Morgen steigen wir in den Wagen/Freudig unseren Kopf zu zerschlagen/Und Glückseligkeit und Faulheit verachtend/Schreien wir: Verpiss dich! Verfickte Mutter!“
Und auch heute gehört es für prominente Autoren wie Wladimir Sorokin zum guten Ton, die Helden ihrer Bücher mit dem Sound der Straße auszustatten. „Ohne Mat kommen sie nicht aus“, sagt Punksänger Schnurow. Ansonsten wäre das wohl „polnyj pizdec“. Der Abgrund, das Ende, der Tod.