Im September 2014, als der in Berlin und London lebende Fotograf Grey Hutton nach Gaza reiste, war die Stimmung angespannt. Gerade war ein mehrmonatiger Krieg mit Israel zu Ende gegangen, der Hunderte Opfer gefordert hatte. Für viele der Kinder, die er dort traf, war es längst nicht die erste Auseinandersetzung, die sie miterleben mussten. Hutton wollte mehr über sie erfahren. Er gab einer Gruppe von 16 Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren Einwegkameras, um ihr Leben, ihren Alltag und ihre Umgebung zu dokumentieren. Die Bilder, die bei dem Projekt entstanden, liefern Einblicke in ihr Leben in Gaza.
Rawand Nassar: „Als ich damals die Kamera bekam, hieß es nur, wir sollten losziehen und Bilder machen, die die Situation, in der wir aufwachsen, reflektieren. Es ist sehr schwierig, in Gaza aufzuwachsen. Der ständige Druck nagt an der Psyche. Ich konnte ja nie unbedarft durch die Straßen ziehen und spielen, Vögeln nachjagen, so wie das Kinder in anderen, freieren Ländern tun. Auch Reisen war für mich natürlich nie eine Option, dabei hätte ich sehr gerne einmal Gaza verlassen. Es ist hier wie in einem Gefängnis, in das man hineingeboren wird. Urteil: lebenslänglich.
Der Alltag hier ist beschwerlich. Dauernd fällt der Strom aus, manchmal dauert es Tage, bis er wiederkommt. Fließendes Wasser gibt es oft stundenlang nicht. Eines der größten Probleme sind die Preise. Durch die israelische Blockade sind die eklatant gestiegen. Und es gibt keine staatliche Unterstützung für Studenten in Gaza, und so ist auch ein Studium für die meisten hier zu teuer. Gäbe es nicht das Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA), könnten viele Familien es sich nicht mal leisten, ihre Kinder zur Schule zu schicken.
Heute studiere ich Pharmazie. Medizin wäre mir lieber gewesen. Der menschliche Körper, sein Aufbau, die Chemie und auch seine Krankheiten sind meine Leidenschaft. Aber das Studium konnte sich meine Familie nicht leisten. Nach meinem Abschluss möchte ich in einer Apotheke arbeiten. Mein größter Wunsch wäre ein Austauschsemester im Ausland.
Wenn ich heute zurückblicke, finde ich, dass das Projekt mich verändert hat. Ich bin verantwortlicher und hilfsbereiter im Alltag geworden. Und es hat meinen Blick auf meine Situation geschärft. Für meine Zukunft hoffe ich, in Frieden und in Ruhe leben zu können. So wie die Menschen in Europa.“
Fawzi Talal Abu Kwaik: „Als ich vor vier Jahren an dem Fotoprojekt teilgenommen habe, ging ich noch zur Schule. Es war eine sorgenfreiere Zeit, in der mir die hoffnungslose Lage, in der ich herangewachsen bin, noch nicht so bewusst war. Es war Normalität. War ja nie anders gewesen.
Mittlerweile studiere ich Multimedia an der University of Palestine. Meinen Alltag dominiert der Mangel. Es fehlt hier überall am Nötigsten: Essen, Medikamente, Sicherheit. Die durch die verheerende politische Lage hervorgerufene wirtschaftliche Instabilität belastet mich sehr. Die meisten Menschen in meinem Bekanntenkreis sind arbeitslos. Und ich fürchte, nach meinem Abschluss auch nicht so schnell Arbeit zu finden.
An das Fotoprojekt denke ich gerne zurück. Mir ist das Leiden der Menschen im Gazastreifen seitdem bewusster geworden, ich sehe aber auch das Glück deutlicher, das sich in den kleinen Dingen versteckt, und welche wichtige Bedeutung die Medien für Gaza haben könnten. Das hat meine Studienfachwahl stark beeinflusst.
Auf meinen Fotos spielt das Meer eine wichtige Rolle: Ich liebe es, über das Meer zum Horizont zu blicken. Gleichzeitig macht es mich traurig – so viel Ferne, die für mich unerreichbar ist. Ein anderes wichtiges Motiv ist meine Familie. Viele Fotos zeigen die Töchter meiner Schwester. Familie bedeutet mir alles – wie so vielen anderen hier. Sie steht für Liebe, Zuneigung und Stabilität. Sie ist mein Halt in einem Land, in dem nichts stabil ist.
Ich selbst möchte mich in meinem Studium nun auf Fotografie spezialisieren. Ich sehe darin die große Chance, das Leiden meines Landes über die verbarrikadierten Grenzen Gazas zu tragen. Ich hoffe, dass die Bilder – der Blick mit der Kamera – die Sichtweise anderer Menschen auf den Konflikt so beeinflussen und verändern können, wie sie das für mich getan haben.“
Fotos: Hanaadi AbuShaweesh, Ahmed Qaramaan, Rawand Nassar, Fidaa AbuMarshood, Alaa AlErr, Ayah Bkheet, Iyaas Mubarak, Mayar Mubarak, Saed Ramadan, Ahmed Ramadan, Nael Mubarak, Fawzi AbuKwek, Majdi AbuDallal, Bayan AbuAlrous, Ahmed Abdelaal, Ehab AbuShaweesh